“Mit welchen Reformen Programmländer des Euroraums ihr Potential für Wirtschaftswachstum verbessern? Beispiele hier…”, twitterte das Bundesfinanzministerium just unter Verweis auf seine neueste Abhandlung zur Entwicklung in den von der Austeritätspolitik heimgesuchten Euroländern. Und was dort zu lesen ist wirft die Frage auf: Können Mitarbeiter eines Ministeriums tatsächlich so skrupellos sein? Eine Frage, die man wohl nicht erst nach diesem Text aus jenem Hause bejahen muss.
“In vielen Ländern hat die Intensität von Strukturreformen stark zugenommen. Dies ist wichtig, da Strukturreformen das Potential für Wirtschaftswachstum verbessern. So konstatiert die OECD in ihrem jährlichen Bericht „Going for Growth“, dass die Krise als Katalysator für Strukturreformen gewirkt hat. Der OECD-Bericht untersucht den Fortschritt verschiedener Länder im Bereich Strukturreformen seit Ausbruch der Krise. Er zeigt, dass sich die Umsetzung der OECD-Reformempfehlungen in den Ländern am stärksten erhöht hat, die von der Krise am stärksten betroffen sind wie Griechenland, Irland, Portugal und auch Spanien. Damit finden die Reformen in den Ländern statt, die ihrer am meisten bedürfen.”
An diesen einleitenden Sätzen ist gleich einiges bemerkenswert:
Der Text versucht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krise und “Strukturreformen” herzustellen. Umso stärker ein Land von der Krise betroffen ist, desto stärker hat sich die Umsetzung der OECD-Reformempfehlungen erhöht, attestiert das Bundesfinanzministerium.
Ist das ein Versuch, sich aus der Verantwortung für die katastrophalen Folgen jener “Strukturreformen” zu stehlen, diese nun als “OECD-Reformempfehlungen” zu bezeichnen? Es waren und sind vor allem die Empfehlungen Deutschlands und der so genannten Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF, die die “Strukturreformen” formulierten; und es waren keine “Empfehlungen”, sondern strenge Auflagen, aus denen es kaum ein Entkommen gab, sieht man von der Möglichkeit ab, die Europäische Währungsunion (EWU) zu verlassen.
Deswegen ist es auch unsachlich und verlogen zu schreiben, “dass die Krise als Katalysator für Strukturreformen gewirkt hat.” Nicht die Krise hat als Katalysator für Strukturreformen gewirkt, denn aus einer oder in eine Krise können immer verschiedene Politiken heraus- bzw., wie ja gerade die “Strukturreformen” gezeigt haben, auch tiefer hinein führen, sondern die Auflagen der Troika unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands haben als Brechstange gewirkt, die man einem schon am Boden liegenden über den Schädel schlägt. Das haben wir seit Jahren bis in die jüngste Zeit immer wieder empirisch nachgezeichnet und evaluiert.
Das Bundesfinanzministerium aber sieht jene “Strukturreformen” als notwendig an, “da Strukturreformen das Potential für Wirtschaftswachstum verbessern.” Können aber “Strukturreformen”, die das Wirtschaftswachstum nachweislich haben weiter einbrechen lassen, die die Unternehmensinvestitionen so weit gedrückt haben, dass sie nicht einmal den Bestand des vorhandenen Kapitalstocks ersetzen können, die die Arbeitslosigkeit haben in die Höhe schnellen lassen und damit Menschen für Jahre, wenn nicht für immer aus dem Berufsleben katapultiert haben, die die soziale Lage so dramatisch verschlechtert haben, dass ganze Generationen hinter die bereits erreichten Standards zurückgefallen sind, können diese “Strukturreformen” “das Potenzial für Wirtschaftswachstum verbessern”? Niemals!
Was die Beamten des Bundesfinanzministerium hier betreiben, vorneweg ihr Minister, Wolfgang Schäuble, ist die Exekution einer Ideologie die, wie erst eine jüngere Studie wieder gezeigt hat, über Leichen geht.
Das Bundesfinanzministerium schreibt, wie oben zitiert: “Damit finden die Reformen in den Ländern statt, die ihrer am meisten bedürfen.” Das ist irrsinnig und erinnert an die Heilige Inquisition bzw. an den bekannten Mafia-Spruch: “Glaub´mir, es tut mir mehr weh als Dir, aber ich muss Dich umbringen.” Nur das weder die Heilige Inquisition noch ein Mafiosi auf den Gedanken verfallen würden, dass es danach noch ein Weiterleben geben könne und sollte.
Dass die Beamten und ihr Minister dabei genau wissen, was sie tun, zeigen unter anderem diese Ausführungen, die auch noch einmal deutlich machen, was jene “Strukturreformen” für die Menschen bedeuten:
“Die Arbeitsmarktreformen stärken die internationale Wettbewerbsfähigkeit und tragen erheblich dazu bei, dass die Arbeitsmärkte robuster auf mögliche zukünftige wirtschaftliche Schocks reagieren können. Ein Beispiel ist die breite spanische Arbeitsmarktreform mit den Hauptzielen Erhöhung der betrieblichen Flexibilität (mit Vorrang von Firmentarifverträgen vor Flächentarifverträgen, damit Dezentralisierung der Lohnfindung Richtung Betriebsebene) und Erhöhung der Attraktivität von unbefristeten Arbeitsverträgen für Firmen durch Verringerung des Kündigungsschutzes. Reformen auf den Gütermärkten wurden bisher nur in Teilbereichen umgesetzt. Reformen zur Stärkung des Wettbewerbs im Einzelhandel in Italien und Irland sowie die von Italien, Irland, Portugal und Spanien ergriffenen Maßnahmen zur Liberalisierung freiberuflicher Dienstleistungen sind hierbei beispielgebend.”
Das ist in summa alles, was die Bundesrepublik unter rot-grün mit der Agenda 2010 vorexerziert hat – nur, dass Griechenland und andere davon betroffene Länder dies jetzt im Schnelldurchgang nachvollziehen sollen; was natürlich nicht gelingt, weil nicht alle den menschenfeindlichen Wahnsinn und volkswirtschaftlichen Unsinn praktizieren können, den Deutschland ja auch nur auf Kosten eben auch jener Länder betreiben konnte, die im Ergebnis zu Deutschlands Gunsten mehr ausgaben als einnahmen – was aber, wie bekannt, nicht nur die Eurokrise maßgeblich verursacht, sondern auch Deutschland keine wirtschaftlich positive Entwicklung beschert hat – erst Recht hat es nicht “das Potenzial für Wirtschaftswachstum verbessert”. Was letzteres anbelangt muss man nur an die marode deutsche Infrastruktur und den betreffenden Milliarden-Investitionsrückstand denken, oder an die rund 60.000 Schülerinnen und Schüler, die seit vielen Jahren die Schule ohne Abschluss verlassen – und zwar jedes Jahr! Oder an die generell schlechte Entwicklung der Bruttoanlageinvestitionen und der Produktivität. In Deutschland!
Man kann sich vor diesem Hintergrund die sich daran anschließende Einzelbetrachtung der von jenen “Strukturreformen” betroffenen Länder durch das Bundesfinanzministerium getrost schenken. Wer allerdings Einblick in eine deflationäre Entwicklungsspirale mit all ihren schlimmen, für die Bevölkerung und die EWU katastrophalen Folgen, gewinnen möchte, lese diese Länderübersichten des irrwitzigen und skurpellosen Bundesfinanzministeriums.
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