Adieu Vollbeschäftigung (12.04.2011)
Am 11. April hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Bmwi) das Nationale Reformprogramm der Bundesrepublik Deutschland in der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin vorgestellt.
Dazu kann man viele Meinungen haben. Der Vertreter der Europäischen Kommission bezeichnete es als nicht “besonders ambitioniert”, es sei “keine Gesamtstrategie zu erkennen”, eher eine “Ex-Post-Strategie”, da das Programm weitgehend bereits bestehende Maßnahmen der Bundesregierung beschreibe.

Eines aber ist mit dem Vortrag des Bmwi durch eine darin enthaltene Graphik und die ihr per definitionem zugrundeliegende Logik belegt: Die Bundesregierung hat kein beschäftigungspolitisches Ziel – jedenfalls nicht das, die Arbeitslosigkeit zu senken.

So zeigt die Graphik auf Seite 3 zu Punkt “1. Makroökonomischer Hintergrund”, dass das prognostizierte tatsächliche reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (grüne Linie) in der Zukunft fortlaufend unter dem unterstellten potenziellen Wirtschaftswachstum (rote Linie) liegen soll.
Die Arbeitslosigkeit kann aber nur sinken, wenn die Wachstumsrate des tatsächlichen Bruttoinlandsprodukts über der des Potenzialwachstums liegt (1). Warum ist das so?
Das Potenzialwachstum ist das Produkt aus Arbeitspotenzial und potenzieller Arbeitsproduktivität, das sich bei Vollbeschäftigung bzw. optimalen Kapazitätsauslastung der eingesetzten Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital ergibt. Das Arbeitspotenzial umfasst die Erwerbstätigen und die Arbeitslosen. Die Arbeitsproduktivität ist der mit dem Einsatz der Beschäftigten und des Sachkapitals geschaffene Wert.
Das tatsächliche Wachstum des realen Bruttoinlandsproduktes ist das Produkt aus Erwerbstätigen und tatsächlich erzielter Arbeitsproduktivität. Die Arbeitslosen sind hier – wie im richtigen Leben – außen vor. Verfolgt die Bundesregierung das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziel, die bestehende Arbeitslosigkeit zu senken, muss sie daher ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes anstreben, das über dem Potenzialwachstum liegt. Damit auch eingefleischte Wachstumsgegner an dieser Stelle weiterlesen, sei angemerkt, dass auch der wünschenswerte Ausbau regenerativer Energien wie alle ökologisch wünschenswerten Entwicklungen immer auch Wirtschaftswachstum bedeuten.

Nur wenn die tatsächliche Wachstumsrate (Nachfrage nach Arbeitskräften) über der des Potenzialwachstums (Angebot an Arbeitskräften) liegt, können Arbeitslose zusätzlich zu den bisher schon Erwerbstätigen beschäftigt werden. Ungeachtet dieses Zusammenhanges, verweist die Anmerkung des Bmwi ebenda, dass das “Wachstumspotenzial 2013 bis 2015 1 1/2 % pro Jahr” betragen soll, zudem auf eine generelle Schwäche des Ansatzes: Von einem Wachstum von 1 1/2 Prozent auszugehen, hieße für die deutsche Volkswirtschaft gerade einmal im Rahmen des jährlichen durchschnittlichen Anstiegs der Arbeitsproduktivität zu wachsen, wie sie die Statistik für Deutschland für den Zeitraum 1995 bis 2010 ausweist (1,3 Prozent) (3). Für den Zeitraum 2010 bis 2015 unterstellen die Wirtschaftsforschungsinstitute sogar nur ein Wachstum der Arbeitsproduktivität von 1,1 Prozent (vgl. Frühjahrsgutachten, S. 43); das Produktionspotenzial soll danach um 1,2 Prozent wachsen.

Dieser methodische Ansatz suggeriert, dass kein höheres Wirtschaftswachstum möglich ist; denn wie auch soll eine Wirtschaft tatsächlich schneller wachsen als ihr Potenzial? Nun, ganz einfach: Indem die Wirtschaftspolitik mit dem Ziel höherer Beschäftigung bzw. Abbau der Arbeitslosigkeit eben ein höheres Wirtschaftswachstum fordert und entsprechende Maßnahmen zur Anregung von Investitionen und Konsum festlegt und umsetzt. Eine entwickelte Volkswirtschaft ist schließlich kein starres Gebilde (wie die deutsche Wirtschafts”wissenschaft”), sondern ein Komplex, in dem Unternehmen unter den richtigen politischen Rahmenbedingungen, neue produktivitätssteigernde Prozessinnovationen bzw. Herstellungsverfahren und neue Technologien und Produkte entwickeln, die preissenkend, beschäftigungsfördernd und auch umweltorientiert wirken und - wiederum den richtigen wirtschaftspolitischen, in diesem Fall verteilungspolitischen Rahmen vorausgesetzt – den Wohlstand der gesamten Bevölkerung anheben können.

Doch zurück zum engen Korsett des Potenzial-Wachstums: Als ich den Vortragenden, Martin Lehmann-Stanislowski, Leiter des Referats “Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik”, Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum entsprechend befragte, antwortete er, dass dies ein „Missverständnis“ sei und sprach von Inflationsgefahren.

Abgesehen davon, dass in dieser Frage per definitionem kein Missverständnis möglich ist, ließe sich aus seiner Aussage nun wiederum schließen, dass die Bundesregierung Vollbeschäftigung als Teufelszeug betrachtet, ginge mit ihr doch einher, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit abnähme, die Arbeitnehmerseite daraus gestärkt hervorginge und die bis jetzt so erfolgreiche, durch die Gesetzgebung der vergangenen Jahre ermöglichte, politisch organisierte Lohndrückerei ein Ende hätte (2).
Die Vertreter des „Niedriglohnkonzeptes“ sehen in Lohnsteigerungen per se Inflationsgefahr (Lohn-Preis-Spirale). Sie sind aber auch hierin insoweit inkonsequent, dass sie ihre „Logik“ nicht auch auf Lohnsenkungen anwenden, wonach von letzteren Deflationsgefahr ausgehen müsste.
Tatsächlich verhält es sich so, dass Lohnsteigerungen im Rahmen der erzielten Produktivitätssteigerung kostenneutral sind; gelänge es den Gewerkschaften zusätzlich die Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank heraus zu handeln, wären die Lohnsteigerungen auch – sofern dieses Inflationsziel erreicht wird - verteilungsneutral. Mit dieser Lohnregel hat die deutsche Wirtschaftspolitik – und die vorherrschende deutsche Wirtschaftswissenschaft – jedoch seit langem gebrochen, ja, sie bekämpft sie vehement; unmissverständlich zeigen dies auch die gegenwärtige Politik der Bundesregierung  und die Ausführungen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute im Frühjahrsgutachten, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone und die ihnen zugrundeliegende Lohnstückkostenentwicklung betreffend.

Vollbeschäftigung rückt so in weite Ferne bzw. wird sie fatalistisch der demographischen Entwicklung anheimgestellt.

Wie das Ziel Vollbeschäftigung konkretisiert werden kann, ist hier nachzulesen: Ziel Vollbeschäftigung

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(1) Eine hervorragende Darstellung dieses Sachverhaltes findet sich in: Claus Köhler, Orientierungshilfen für die Wirtschaftspolitik, Veröffentlichungen des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Band 41, Berlin 2004, S. 19 f. und 27 f.

(2) Lesenswert hierzu der Essay des polnischen Ökonomen Michael Kalecki: Politische Aspekte der Vollbeschäftigung, in: M. Kalecki, Krise und. Prosperität im Kapitalismus, Marburg 1987, S. 235f.

(3) Vergleiche hierzu zuletzt: Frühjahrsgutachten, S. 43


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