Schaut man in die Medien, ist das Neue Jahr kein neues. Das wiederum ist auch nicht neu, denn es war im vergangenen Jahr nicht anders und in den vorangegangenen auch nicht. Die Botschaften sind die alten. Nehmen wir als Beleg hierfür die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin – zumindest Frau Merkel ist neu. Hier zunächst ihre Botschaft in Auszügen:
„Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend das Ziel setzen, im kommenden Jahr überall noch ein wenig mehr als bisher zu vollbringen?“
Und: „Ich weiß, dass vielen bereits sehr viel abverlangt wird. Ich wage es dennoch noch einmal: Ich möchte uns ganz einfach ermuntern herauszufinden, was in uns steckt! Ich bin überzeugt, wir werden überrascht sein!“
Und: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir sehen, wir können gemeinsam so viel erreichen! Jeder kann seinen Beitrag leisten! Und wenn wir auch bei uns zu Hause künftig unsere Probleme in den Griff bekommen wollen, und zwar auch das Problem Nr. 1, das ist ohne Zweifel die erschreckend hohe Arbeitslosigkeit – dann müssen wir noch mehr als bisher tun. Genau das hat sich meine Regierung vorgenommen.“
Und: „Dazu werden wir Sie nach Kräften unterstützen, aber dazu müssen wir alle auch überkommene Rituale in Politik und Verbänden überwinden. Und wir sollten uns an eine einfache Weisheit erinnern, sie lautet: Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit. Deshalb machen wir Bürokratieabbau, eine wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung, eine Reform von Bund und Ländern. Und wir arbeiten für eine echte Reform der Kranken- und Pflegeversicherung im nächsten Jahr – für eine überzeugende Idee auch dort, und die wird in die Tat umgesetzt. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich möchte, dass Sie Ihre Ideen für sich und ihre Familien verwirklichen können. Deutschland ist das Land der Ideen. Aber von unseren Ideen leben – das können wir nur, wenn wir sie auch in die Tat umsetzen. Überraschen wir uns damit, was möglich ist! Fangen wir einfach an – ab morgen früh.“
Wie wirkt das auf Sie? (Das interessiert mich wirklich, beantworten Sie diese Frage bitte für sich, bevor Sie weiter lesen, und schreiben Sie es mir bitte an info@wirtschaftundgesellschaft.de, Betreff: Neujahrsansprache).
Zwei Tage zuvor, am 29. Dezember, berichtet der Deutschlandfunk: „In einem Offenen Brief, der in den nächsten Tagen als Anzeige in Zeitschriften und Zeitungen erscheinen soll, rief die Bundeskanzlerin die Bürger zu mehr Gemeinsinn auf.“
Die nahezu zeitgleich erschienenen Botschaften der Neujahrsansprache und des offenen Briefes passen auf den ersten Blick nicht zusammen. Die Neujahrsansprache, ein Plädoyer an die Leistungsbereitschaft, die „Freiheit“ des Einzelnen – Freiheit gleich Leistungsbereitschaft – und der Aufruf an die Bürger zu mehr Gemeinsinn.
Für mich klingt die Neujahrsansprache schon fast wie eine Beschwörung. Dabei versteckt sich die Bundeskanzlerin hinter Begriffen, die den Bürger mit Fragezeichen zurücklassen müssen. Sie sagt, wenn wir künftig unsere Probleme zu Hause in den Griff bekommen wollen, „dann müssen wir noch mehr als bisher tun.“ Das ist zunächst einmal eine deutliche Sprache. Auch, wenn es nicht zu dem historischen Sachverhalt passt, dass unsere Gesellschaft Jahr für Jahr immer produktiver wird und sich folglich eher Probleme – namentlich Arbeitslosigkeit – schafft, wenn der Einzelne „noch mehr als bisher tut“. Im Verlauf der erfolgreichen Industriegeschichte hat der Einzelne immer weniger und nicht mehr Zeit aufwenden müssen, um die gleiche oder sogar eine steigende Arbeitsleistung zu erbringen. Sonst gäbe es im Übrigen auch gar keinen Sozialstaat, an dessen “Reform” sich die Politik heute so vehement übt. Aber was heißt das von Frau Merkel im Anschluss daran Gesagte?
„Dazu werden wir Sie nach Kräften unterstützen, aber dazu müssen wir alle auch überkommene Rituale in Politik und Verbänden überwinden. Und wir sollten uns an eine einfache Weisheit erinnern, sie lautet: Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit.
Deshalb machen wir Bürokratieabbau, eine wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung, eine Reform von Bund und Ländern. Und wir arbeiten für eine echte Reform der Kranken- und Pflegeversicherung im nächsten Jahr – für eine überzeugende Idee auch dort, und die wird in die Tat umgesetzt.“
Inwieweit kann sich aber der Bürger zukünftig noch auf die Unterstützung, “die Kräfte” der Politik verlassen, wenn diese sich mehr und mehr auf die Leistungsbereitschaft des Einzelnen verlässt? * Welche „überkommenen Rituale“ genau möchte die Bundeskanzlerin „überwinden“? Das müssen die Bürger doch genauer wissen, oder nicht? Was bedeutet bspw. der proklamierte Bürokratieabbau für die Versorgung der Bürger? Was bedeutet eine „wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung“ als Zielsetzung, wenn Deutschland bereits heute mehr als jedes andere Land an den Rest der Welt verkauft, auch, wenn man die dafür aus dem Ausland eingekauften Waren und Dienstleistungen abzieht? Was haben die in den vergangenen Jahren bereits drastisch gesenkten Unternehmenssteuern den Bürgern gebracht? Genügend Wachstum, um die Arbeitslosigkeit vom Siegertreppchen der wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme zu stoßen, verbesserte Lebensumstände für die, die am stärksten darauf angewiesen sind, Erfolge bei der Überwindung sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft, eine sorglosere Zukunft? Nein. Welches sind in dieser Hinsicht überhaupt die nachvollziehbaren, allgemein verständlichen Kriterien der Bundesregierung für eine erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung? „Mehr Freiheit“ wofür und für wen? Und was heißt „echte“ Reform? Waren die bisher in den vergangenen Jahren umgesetzten, in ihrem Ausmaß in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie da gewesenen Reformen nicht „echt“, nicht echt genug?
Verbirgt sich hinter der viel beschworenen „Freiheit“ des Einzelnen nicht vielleicht viel eher eine provozierte Rücksichtslosigkeit des Einzelnen, rücksichtslos gegenüber dem sozialen Ganzen zum „Vorteil“ des Einzelnen. Auf welchen gesellschaftlichen Weg werden wir hier geführt? „Deutschland ist das Land der Ideen“, sagt Frau Merkel in ihrer Neujahrsansprache. Für mich ist Deutschland eher das Land – das Opfer – einer äußerst einseitigen Ideologie, in der eine – noch dazu eine unsoziale und von den falschen Voraussetzungen ausgehende – Idee die soziale Wirklichkeit bestimmt.
Wie ist es vor diesem Hintergrund zu verstehen, dass die Bundeskanzlerin die Bürger in einem offenen Brief nahezu zeitgleich zur oben diskutierten Neujahrsansprache zu mehr Gemeinsinn aufruft? Ich verstehe das so: Die Politik zieht sich auf die „Freiheit“ des Einzelnen zurück, sie gibt den politischen Gemeinsinn, die politische Verantwortung für das soziale Ganze ab. Die Politik verabschiedet sich mehr und mehr aus der sozialen Verantwortung. Die Sprache, in der sie das Volk darüber unterrichtet, ist, wie oben ausgeführt, wenig aussagekräftig und daher unverständlich. Der der Politik abhanden gekommene gesellschaftliche Gemeinsinn soll durch den Gemeinsinn des Einzelnen aufgefangen werden. Wird letzterer aber nicht gerade durch die von eben dieser Idee geleitete Politik zerstört?
Wenn eine politische Idee – in diesem Fall die Idee der „Freiheit des Einzelnen“ – die Wirklichkeit bestimmt, die Wirklichkeit aber nicht die Voraussetzungen für eine Realisierung dieser Idee liefert
– zumindest nicht, ohne die Vorstellung einer egalitären Gesellschaft gleich mit aufzugeben –, dann verspricht dies nichts Gutes für die Menschen, für die Gesellschaft. Schon die in Studien, Berichten und Tests einhellig ausgewiesenen ungleichen Voraussetzungen des Einzelnen in dieser Gesellschaft müssten der Politik als Beleg dafür genügen, dass das Abstellen auf die Eigenverantwortung des Einzelnen eben diese ungleichen Verhältnisse fortschreiben und noch vertiefen muss.
Wer dennoch zu Jahresbeginn optimistisch in die Zukunft blicken möchte, dem bleiben zumindest zwei Möglichkeiten. Persönlich empfehlen kann ich nur die letztere. Vor der ersteren kann ich nur warnen.
Die erste Möglichkeit ist, in eine geradezu religiöse Zuversicht einzustimmen. Hierzu gibt die Zeitung DIE WELT Hilfestellung. So berichtet der Deutschlandfunk in seiner Presseschau zum 1. Januar 2006:
„Die WELT AM SONNTAG macht zum Jahreswechsel neue Zuversicht in Deutschland aus und fragt: ´Woher kommt plötzlich dieser Optimismus?´ Als Antwort bietet der Kommentar folgende Überlegung an: ´Auch im neuen Jahr steht Deutschland vor großen Aufgaben. Doch es wächst die Neigung, sie als Herausforderungen anzunehmen, statt als Probleme zu bejammern. Es wächst die Neigung, zu Lösungen beizutragen, statt zu erklären, warum sie scheitern müssen. Bei der jüngeren Generation wächst Forscher- und Unternehmergeist. Selbständigkeit und die Gründung eigener Firmen stehen bei dieser Generation hoch im Kurs. Die Lektion, dass vom Sozialstaat wenig zu erwarten sein wird, ist gelernt. Und siehe da: die Erkenntnis setzt Kräfte frei, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Zu erkennen ist eine Besinnung darauf, wie befriedigend es ist, Verantwortung zu übernehmen für sich und andere. Unser Optimismus richtet sich auf die Renaissance einer freien Bürgergesellschaft. Ihr Symbol ist die wieder aufgebaute Dresdner Frauenkirche, in der es zum Jahreswechsel erstmals wieder eine Orgelvesper gab. Seien wir also verwegen,´ meint die WELT AM SONNTAG, ´Gönnen wir uns zum neuen Jahr etwas Optimismus.”
Die zweite Möglichkeit ist, sich zu besinnen, die Sprache der Mächtigen in Politik und Medien zu hinterfragen, zu begründen, warum sich unsere Gesellschaft diesen Sozialstaat sehr gut leisten kann und warum sein Erhalt und sein Ausbau – ja, Sie haben richtig gelesen – so wünschenswert, notwendig und voller Perspektiven für die Menschen sind. Nicht der Ausbau des Sozialstaats gefährdet unsere Zukunft und unsere Freiheit sonder sein in eine nebulöse Wortwahl gekleideter, in der politischen Praxis jedoch ganz unverhohlen umgesetzter Abbau.
Im letzteren Sinne wünsche ich Ihnen ein gesundes, krankenversichertes, glückliches, arbeitsplatz- und einkommensgesichertes und erfülltes, mit genügend Zeit, Muße und Geld für Ihre individuellen Interessen ausgestattetes Neues Jahr!
* Vgl. hierzu auch die Aussagen des Bundestagspräsidenten Lammert am 1. Januar 2006.
Florian Mahler
info@wirtschaftundgesellschaft.de
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