Mehr Brutto muß her
Statt leere Versprechungen zu machen, muß Politik sichern, daß die Vergütung der Beschäftigten nicht länger von Produktivitäts- und Preisentwicklung abgekoppelt wird
Von Florian MahlerIn diesen Tagen ist viel vom Brutto und Netto die Rede. Damit den abhängig Beschäftigten mehr Geld im Portemonnaie verbleibt, sollen Steuern und Sozialabgaben gesenkt werden. Die CSU will jetzt immerhin die hohe Grenzsteuerbelastung niedriger und mittlerer Einkommen, den sogenannten Mittelstandsbauch, beseitigen. Die Grenzsteuerbelastung gibt an, wieviel von einem zusätzlich verdienten Euro an den Fiskus fällt. Eine stärkere Besteuerung hoher und sehr hoher Einkommen sieht der Vorschlag der CSU freilich nicht vor. Das aber hat Die Linke in ihrem Konzept zur Beseitigung des Mittelstandsbauches vorgeschlagen und bereits im Mai 2007 in den Bundestag eingebracht. Sie flankiert dies als einzige Partei auch mit der generellen Forderung nach einer produktivitätsorientierten und inflationsausgleichenden Lohnpolitik. Die SPD lehnt demgegenüber Steuersenkungen pauschal ab und hat sich einmal mehr der Senkung der Sozialabgaben verschrieben. Wer aber so »mehr Netto vom Brutto« verlangt, läßt von vornherein die Bezugsgröße, die Bruttolöhne und -gehälter, außen vor. Was aber, wenn die magere Kaufkraft der Beschäftigten gar nicht in erster Linie auf die zu entrichtenden Einkommenssteuern und Sozialabgaben zurückzuführen ist, sondern auf die dürftige Entwicklung der Bruttolöhne?
Produktivität gestiegen
Um diese Frage zu beantworten, muß die Entlohnung mit der Leistung verglichen werden. Die Bezahlung läßt sich messen an den vom Statistischen Bundesamt errechneten Lohnkosten je Arbeitnehmerstunde, also dem Bruttogehalt, das ein abhängig Beschäftigter pro Stunde erhält. Die Leistung, die er dafür erbringt, gibt das Amt mit der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde an. Um sehen zu können, ob der Beschäftigte im Verlauf eines Jahres zumindest brutto tatsächlich mehr erhält, muß vom durchschnittlichen Bruttogehalt die jährliche Preissteigerung abgezogen werden. Das ergibt dann den preisbereinigten Bruttolohn, auch Reallohn genannt. Liegt dessen Veränderung mit der Arbeitsproduktivität gleichauf, sind die Beschäftigten entsprechend der gestiegenen Leistungsfähigkeit am Wohlstandszuwachs der Volkswirtschaft beteiligt worden. Das war in den vergangenen Jahren nicht der Fall.
Seit den 1980er Jahren sind die Reallöhne weniger stark gestiegen als die Produktivität. Im neuen Jahrtausend sind sie sogar gesunken. Schlimmer noch, zwischen 2001 und 2007 ist selbst die Bruttolohnentwicklung hinter die Produktivitätsentwicklung zurückgefallen. Seit rund 25 Jahren nehmen die Beschäftigten also nicht mehr angemessen am Wohlstandszuwachs teil. Laut Statistischem Bundesamt verzeichnete Deutschland im vergangenen Jahr den geringsten Anstieg der Arbeitskosten aller EU-Mitgliedstaaten. Auch liegt das Niveau der deutschen Arbeitskosten unter dem vergleichbarer Nachbastaaten wie Dänemark, Schweden, Belgien, Luxemburg, Frankreich oder den Niederlanden.
In diesen Arbeitskosten – und das ist für die Diskussion um die Senkung der Sozialabgaben entscheidend – sind die sogenannten Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung enthalten. Selbst der Namensgeber des Neoliberalismus, Alexander Rüstow (1885–1963), sprach bereits vom »Mythos Arbeitgeberanteil«: »Denn auch der Teil, der formell als Unternehmerbeitrag gezahlt wird, geht ja in Wirklichkeit vom Lohn ab; um so viel, wie der Unternehmer an Sozialbeiträgen zahlen muß, kann er an Lohn weniger zahlen. Auch das geht also auf Kosten der Arbeiter.«
Um die Bedeutung der berühmten »Lohnnebenkosten« beurteilen zu können, müssen den »Sozialbeiträgen der Arbeitgeber« die »Aufwendungen für die betriebliche Altersversorgung« und andere »freiwillige Sozialleistungen« (Belegschaftsverpflegung, Wohnungshilfen, betriebliche Kindergärten usw.) hinzugerechnet werden. Sie sind nach der obenstehenden Überlegung ebenfalls Bestandteil des Lohns. Hierzu veröffentlichte das Statistische Bundesamt im April dieses Jahres folgende Mitteilung: »Von 100 Euro Bruttolohn und -gehalt zahlten die Arbeitgeber im Jahr 2007 in Deutschland 32 Euro Lohnnebenkosten. Damit lag Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt von 36 Euro und nahm mit Rang 14 innerhalb der Europäischen Union einen Mittelplatz ein. In Frankreich und Schweden entfielen auf 100 Euro Lohn zusätzlich 50 Euro Lohnnebenkosten.« Dieser empirische Befund führt die seit Jahren bei CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen und der Mehrheit der deutschen »Wirtschaftsexperten« im Mittelpunkt stehende Senkung der »Lohnnebenkosten« ad absurdum. Sie ist mit schuld an dem seit Jahren anhaltenden Lohndumping gegenüber den Nachbarländern.
Gesunken sind schließlich auch die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer, von durchschnittlich 21,1 Prozent 2004 auf 19,5 Prozent im laufenden Jahr. Hätten sich die Bruttolöhne also angemessen erhöht, gäbe es längst »mehr Netto vom Brutto«.
Falscher Ansatz
Die SPD legt ihren Überlegungen die zuletzt genannten Zahlen zugrunde und fordert dennoch eine »Entlastung durch niedrigere Sozialabgaben«. Sie kuriert am Symptom, nicht aber an der Ursache: die dramatisch schlechte Lohnentwicklung. Für die ist die SPD mitverantwortlich. Die verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung sind nur zwei Maßnahmen, die die Beschäftigten einschüchtern, die Gewerkschaften schwächen und Druck auf die Löhne ausüben.
Der aufgezeigte Hintergrund führt zu dem Schluß, daß wir neben einer gerechteren Besteuerung der Einkommen und Vermögen vor allem eines brauchen: Mehr Brutto für mehr Netto!
Dieser Text ist mir etwas wert
|
|