Das sperrige Wort Interdisziplinarität stand einst für den Anspruch, fächerübergreifend zu studieren und so dem Fachidiotentum etwas entgegenzusetzen. Es lohnt sich hier, aus dem guten alten Fremdwörterduden zu zitieren: Danach ist der Fachidiot ein “Wissenschaftler, der sich nur mit seinem Fachgebiet befasst und sich mit Problemen und Fragen aus anderen Bereichen nicht auseinandersetzt.” Zwar ist Peter Schneider nicht Wissenschaftler von Beruf, sondern Schriftsteller, aber ist es nicht gerade diese Disziplin, die eine Auseinandersetzung mit Fragen aus allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen voraussetzt? Man denke nur an Balzacs Comédie Humaine! Und hat Peter Schneider, Student der Germanistik, Geschichte und Philosophie, dieses Urgestein der 68er Bewegung, genau dies nicht auch vollbracht? Zur Erinnerung: Dieser Autor hat den Lenz geschrieben. Außerdem war er laut Wikipedia Redenschreiber im Wahlkampfteam von Willy Brandt und “Mitglied einer ´Projektgruppe Elektroindustrie´, die das Ziel des Aufbaus einer proletarischen Linkspartei verfolgte und die Mobilisierung der Arbeiterschaft anstrebte.” Lang lang ist´s her. Von wegen “vorwärts und nicht vergessen”. Anscheinend muss ein interdisziplinäres Studium nur weit genug zurückliegen, um seine Wirkung zu verlieren. Oder verhält es sich einfach so, dass 68er wie Schröder, Fischer und vielleicht ja auch Schneider schon damals nur die politische Welle ritten, die für die eigene Profilierung gerade am geeignetsten erschien? Ein Verdacht, den ich schon lange hege, vielleicht aber auch nur Ausdruck der eigenen analytischen Hilflosigkeit bei dem Versuch, mir deren radikale “geistige” Wende irgendwie verständlich zu machen.
In seiner Hommage an die SPD, die der
Tagesspiegel am 30.04.2011
online veröffentlichte, geriert sich Peter Schneider als überzeugter Vertreter des neoliberalen Mainstreams – der ja bekanntlich in der SPD in der Agenda-Politik und in Personen wie Peer Steinbrück seinen konzentriertesten Ausdruck gefunden hat.
Dabei muss seine einleitende Problemstellung Hoffnungen bei jedem aufrechten Sozialdemokraten wecken – Hoffnungen, die im Verlauf der Lektüre umso bitterer enttäuscht werden. Peter Schneider fragt zu Beginn nach dem Zustand seiner “Stamm-Partei”, die von einer „krachenden Niederlage“ der Regierungsparteien sprach, “obwohl es doch die SPD war, die in Rheinland-Pfalz die meisten Stimmen verlor, 12 Prozent.” Und er folgert völlig zurecht: “Über den Realitätssinn einer Partei, die am solch einem Abend in Heiterkeit verfällt, darf man sich Sorgen machen.”
Dann aber nimmt Schneiders Text eine erstaunliche Wende und er landet schnurstracks bei der Kanzlerin: Die “skrupellose Gärtnerin namens Angela Merkel”, habe “jedes lebensfähige Pflänzchen im Garten der SPD umgetopft und mit dem Etikett CDU versehen”.
Und welches ist, wenn es nach Peter Schneider geht, jenes “lebensfähige Pflänzchen im Garten der SPD”? Richtig: Die Agenda 2010. Natürlich. Peter Schneider: “Den Aufschwung, mit dem sie sich schmückt, verdankt sie nicht etwa eigenen Reformen, sondern Gerhard Schröders tapferer, auch fehlerhafter Agenda 2010. Das konnte sie unwidersprochen tun, weil sich die ewige Mehrheit der Besserwisser in der SPD vor der Agenda inzwischen bekreuzigt. Dann kehrte der rachsüchtige verlorene Sohn Oskar Lafontaine in die Politik zurück, um der SPD einen guten Teil ihrer Klientel abzujagen.”
Er irrt dabei gleich in zweifacher Weise: Weder ist irgendwo von irgendjemandem nachgewiesen worden - nachgewiesen, nicht behauptet! -, dass die Agenda 2010 zu irgendeinem Wirtschaftsaufschwung beigetragen hat, noch ist, selbst mit sozialdemokratisch wohlwollendstem, um nicht zu sagen sehnsüchtigstem Blick, irgendwo eine “Mehrheit der Besserwisser” zu sichten, die sich vor der Agenda 2010 “bekreuzigt”. Besserwisser beharren bekanntlich auf ihrer Meinung, auch wenn ihnen eine Mehrheit signalisiert, dass der von ihnen eingeschlagene Weg der falsche ist. Die Mehrheit setzt sich in diesem Fall aus den Wählern und Nichtwählern, denen, die der SPD bereits den Rücken gekehrt haben, großen Teilen der noch verbliebenen SPD-Basis und vielen der SPD nahestehenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern zusammen. Die Besserwisser wiederum sind die von dieser Mehrheit abgewählten Parteifunktionäre, die für den Agenda-Kurs der Sozialdemokratie verantwortlich zeichnen, sich aber trotz ihrer krachenden Niederlage bei den vergangenen Bundestagswahlen weiterhin wie selbstverständlich in Amt und Würden kleiden.
Was sich Peter Schneider in diesem Zusammenhang dann auch hätte fragen müssen: Wie sonst hätte es Oskar Lafontaine gelingen können, “der SPD einen guten Teil ihrer Klientel abzujagen”? Aber wer die Tatsachen so irrational verdreht und sich im Falle Lafontaines auf die sattsam bekannte BILDhafte Rachsucht kapriziert, dem muss der Blick auf die realen Gegebenheiten verwehrt bleiben. Und das von einem Autor, der laut Wikipedia 1967 an der Vorbereitung des „Springer-Tribunals“ beteiligt war. Noch einmal: Vorwärts und nicht vergessen!
Und doch gelingt es Peter Schneider im Anschluss hieran ein weiteres Mal eine sinnvolle Frage zu stellen: “Hat die SPD sich diese Verluste nicht vor allem selber zuzuschreiben?”, fragt er.
In seinem Bemühen, hierauf eine schlüssige Antwort zu finden, versagt er aber erneut kläglich. Das muss man sich einmal als sozialdemokratisch denkender Mitmensch auf der Zunge zergehen lassen, Peter Schneider: “Wer wird schon auf eine Partei wetten, die sich ihrer eigenen Erfolge schämt und die Leichen ihrer Führer ständig umbettet? Schlimmer ist, dass die SPD es nicht verstand, sich die neuen Themen, die ihr die Geschichte zuspielte, anzueignen. Die Finanzkrise und der epochale Vorgang der Vernichtung und Umverteilung von Milliarden hat in der SPD keinen Volkstribun gefunden. Wer, wenn nicht die SPD wäre kraft ihrer Geschichte dazu berufen, das schamlose Treiben der Boni-Banker und ihres falschen Helden Josef Ackermann bloßzustellen? Nicht einmal den von der CDU und der FDP fromm wiederholten Kinderspruch ´Märkte korrigieren sich selbst´(´Kinder erziehen sich selbst´, behaupteten ähnlich dumm die 68er) hat sie diesen Parteien um die Ohren geschlagen.”
Hätte Peter Schneider sich auch nur ein bisschen mit der jüngeren Geschichte der Sozialdemokratie auseinandergesetzt, wäre ihm die Antwort auf seine Fragen leicht gefallen, bzw. hätte er sie gar nicht erst gestellt. Die SPD hatte – zumindest aus sozialdemokratischem Blickwinkel – schlichtweg keine Erfolge in ihrer Regierungszeit seit Schröder – den aus heutiger Sicht auch nicht besonders ehrgeizigen Atomkompromiss vielleicht ausgenommen. Wenn sie sich denn wirklich einmal dafür schämen würde, um dann umso befreiter nach vorne zu schauen, wäre schon viel gewonnen. Die SPD hat mit der Agenda 2010 die Arbeitnehmerschaft und die Gewerkschaften massiv geschwächt und unter Druck gesetzt, ja sie hat, mit der willkürlichen Festsetzung der Hartz IV-Sätze, gegen die Verfassung verstoßen. Die SPD hat eine unverhohlene Politik für die Reichen betrieben, indem sie den Spitzensteuersatz und die Unternehmenssteuern massiv gesenkt, die Mehrwertsteuer aber - anders als vor den Wahlen versprochen - angehoben hat. Eine gesunkene Staats- und Lohnquote sind kein Ausweis für eine sozialdemokratische Politik; die auch in sozialdemokratischer Regierungsverantwortung weiter ausgesetzte Vermögenssteuer und nicht wieder eingeführte Börsenumsatzsteuer sind es ebenfalls nicht. Die SPD war es auch, die den Finanzmarktjongleuren einen Freibrief erteilt hat, indem sie ihnen den umfangreichen Handel mit Schrottpapieren erst gesetzlich ermöglichte. Insofern hat die SPD, immer im Kanon mit den konservativen Parteien, nicht nur propagiert, dass sich die Märkte selbst korrigieren, sondern nach dieser falschen Devise auch praktiziert. Die Rente mit 67 ist eine “Erfindung” des Genossen Müntefering und von ihm persönlich durchgepeitscht worden. Müntefering leitet aktuell das Projekt “Generationenpolitik” im Rahmen eines erst Anfang April 2011 von der SPD-Bundestagsfraktion beschlossenen und noch zu erarbeitenden “Zukunftsentwurfes für Deutschland“. Da darf man sich in der Tat schon einmal bekreuzigen.
Deswegen ist die SPD-Spitze bisher auch nicht in der Lage ihre Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie die Kraft ist, “dem schamlosen Treiben der Boni-Banker” und der Umverteilung von unten nach oben ein Ende zu setzen. Was nicht heißt, dass es nicht innerhalb der SPD Ansätze gibt, die Besserung versprechen (1).
Bei Peter Schneider darf auch die Schelte in Sachen Sarrazin nicht fehlen, für dessen Parteizugehörigkeit er wirbt.
Der Höhepunkt folgt dann, wie es sich für einen guten Schriftsteller gehört, zum Schluss: Peter Schneiders sozialdemokratische Hoffnung “gründet sich auf die unabhängigen Köpfe in dieser ältesten und anständigsten Partei Deutschlands. Einer dieser wunderbaren Querköpfe ist der Ex-Finanzminister Peer Steinbrück.” Ganz Schriftsteller, ist für Schneider dabei nicht entscheidend, ob Peer Steinbrück “ein Sympathieträger” ist, sondern “einer der wenigen Politiker, die über eine eigene Sprache verfügen.” Dass es Peer Steinbrück und sein Adlatus Asmussen waren, die der Finanzmarktderegulierung noch bis zum Vorabend der Finanzkrise das Wort geredet haben und die Finanzmarktkrise selbst bis zum Schluss nicht wahrhaben wollten, egal, Hauptsache eloquent.
Abschließend schreibt Peter Schneider: “Aber vielleicht bin ich wirklich nicht zu retten.” In diesem Punkt stimme ich ihm zu. Obwohl: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
(1)
Vergleiche zum Beispiel:
Andrea Ypsilanti, Kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun
Carsten Sieling, Gerechtigkeit, leistungsstarker Staat, nachhaltiges Wachstum
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