Politik, wozu? (21.01.2010)
Viele werden die in der Überschrift aufgeworfene Frage schon mehr als einmal gestellt haben, sich selbst oder anderen. Nicht wenige werden, auf politische Themen angesprochen, auf diese Frage auch nur noch entnervt oder frustriert reagieren, und sähen sie deswegen lieber mit einem Ausrufe- als mit einem Fragezeichen versehen. Immer mehr Menschen haben schließlich aufgehört, diese Frage überhaupt noch zu stellen. Eine sinkende Wahlbeteiligung und die allseits beklagte Politikverdrossenheit sprechen dafür. Das politische Interesse der Menschen kann aber nur zurück gewonnen werden, wenn diese Frage wieder ernsthaft gestellt und beantwortet wird.

Auf diese Frage eine überzeugende Antwort zu finden, sollte daher jedem Politiker und jedem im Politikbetrieb Tätigen eine Herzensangelegenheit sein. Und das ist auch schon mein erster Punkt: Da Politik über das Schicksal von Menschen entscheidet, sollte die alte Redensart, mit dem Herzen dabei zu sein, also etwas mit Engagement und Überzeugung zu tun, in diesem Fach auch nicht verpönt sein oder belächelt werden. Kann eine solche Grundhaltung doch, wie ein gutes altes Hausmittel, allein schon dazu verhelfen, die Abwehrkräfte zu stärken, gegen den ansteckenden und um sich greifenden Opportunismus, der in der Politik längst zu einer weitverbreiteten geistigen Unselbständigkeit geführt hat. Die äußert sich unter anderem darin, dass Positionen kaum noch hinterfragt, sondern nachgebetet oder je nach Gutdünken dem jeweiligen Geist der Zeit angepasst werden. Entsprechend wenig Ausstrahlungskraft üben sie auf die Menschen aus.

Hier eine erste Grundbestimmung:

Erstens: In allen Ländern, ob arm oder reich, haben die Menschen ungleiche Voraussetzungen, ihr Leben zu gestalten. Um diese Unterschiede auszugleichen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern und zu gewährleisten, um nach Möglichkeit jeden Einzelnen dazu zu befähigen, sein Leben gleichberechtigt mit anderen zu führen, braucht es Politik.

Zweitens: Frieden und Abrüstung sind nur mit einer Politik zu erreichen, die den Krieg – glaubwürdig und nicht mit zweierlei Maß messend – wieder als „ultima irratio“ (Willy Brandt in seiner Friedensnobelpreisrede) begreift und auf Verhandlungen, Vermittlung und Interessensausgleich setzt.

Drittens: Die immer drängender werdenden Umwelt- und Klimaprobleme können nur mit Hilfe der Politik entschärft werden. Nur sie kann dafür Sorge tragen, dass die Versorgung der Menschen und die dafür notwendige Produktion und Vermarktung nicht länger ohne Rücksicht auf die Natur organisiert werden.

Eine so begründete Politik sollte zwei Grundsätzen folgen:

Jeder auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und sozialen und ökologischen Fortschritt zielende politische Ansatz muss, um Mensch, Frieden und Umwelt zu dienen, auch vom Menschen, seinen Bedürfnissen, Nöten und Ängsten ausgehen und dabei die Auswirkungen unserer Lebensweise auf die Umwelt von vornherein berücksichtigen. Die Schwächsten in der Gesellschaft müssen dabei am stärksten politisches Gehör finden, ihren Bedürfnissen muss als erstes entsprochen werden. Die aber, denen es besser oder sogar sehr gut geht, müssen von der Politik gewonnen, überzeugt, angehalten, besser noch, durch eine neue Aufbruchstimmung begeistert werden, buchstäblich nach ihren Kräften daran mitzuwirken. Eine entsprechende Gesetzgebung muss für die notwendige Verbindlichkeit sorgen. Beides – den „Schwachen“ zu stärken und die „Stärkeren“ hierfür zu gewinnen – sind unabdingbare Voraussetzungen für eine durch menschliches Miteinander – und nicht Gegeneinander – getragene Gesellschaftsordnung, eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz.

Konkret heißt das zum Beispiel:

Jede Steuerpolitik, die den, der mehr verdient, stärker entlastet, als den, der weniger oder gar nichts verdient, erfüllt diese Voraussetzungen nicht. – Die deutsche Steuerpolitik handelt aber so.

Jede Bildungspolitik, die diejenigen mit von Haus aus besseren Bildungschancen stärker unterstützt, als diejenigen mit geringeren Bildungschancen, erfüllt diese Voraussetzungen ebenfalls nicht. – Die deutsche Bildungspolitik handelt aber so.

Jede Wirtschaftspolitik, die den öffentlichen Dienst kaputt spart, öffentliche Unternehmen privatisiert und damit dem Zwang der privaten Gewinnmaximierung aussetzt, vergibt die Chance, umwelt- und beschäftigungspolitische Weichenstellungen vorzunehmen, wie z.B. den Ausbau der Bahn gegenüber dem Individualverkehr zu beschleunigen und sie für die Menschen attraktiv und bezahlbar zu machen; oder die energiepolitische Wende schneller zu vollziehen, als es nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien sinnvoll erscheint; oder jungen Menschen und Erwachsenen mit schwierigeren Lebensläufen, die der auf Gewinn und privatwirtschaftliche Konkurrenz orientierte Betrieb nicht beschäftigen und ausbilden will, eine menschenwürdige Arbeit und Lebensperspektive zu bieten. – Die deutsche Wirtschaftspolitik handelt aber so.

Jede Finanzpolitik, die darauf verzichtet, mit öffentlichen Ausgabenprogrammen Beschäftigung und Auslastung der Unternehmen zu sichern und sich darauf verlässt, dass der Markt die ihm innewohnenden Schwankungen irgendwann von allein wieder ausgleicht, verschleudert Ressourcen. – Die deutsche Wirtschaftspolitik lässt sich aber nur in größter Not, wie jetzt in der Finanz- und Wirtschaftskrise  – und nicht aus wirtschaftspolitischer Einsicht – überhaupt dazu bewegen, aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik zu betreiben.

Und: Jede Außenpolitik, die nicht darauf abzielt, wirtschaftlich und sozial schwächere Länder zu stärken, ihre wirtschaftliche und politische Selbständigkeit zu fördern und es ihnen so zu ermöglichen, zu den reicheren Ländern aufzuschließen, erfüllt diese Voraussetzungen auch nicht. – Die deutsche Außenpolitik erfüllt diese Voraussetzung nur bedingt.

Auf diese Weise lassen sich auch die politischen Entscheidungen in den verbleibenden Politikfeldern, der Gesundheitspolitik zum Beispiel, ganz grundsätzlich danach beurteilen, ob sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern und sozialen und ökologischen Fortschritt ermöglichen, oder nicht.

Eine Politik, die wie die deutsche in den vergangenen Jahren zu realen Kaufkraftverlusten bei Beschäftigten, Rentnern und Empfängern sozialer Leistungen geführt hat und mit Krieg und Rüstungsexporten versucht, im Ausland Entwicklungen zu erzwingen und in Umwelt- und Klimafragen sich damit begnügt, auf internationale Vereinbarungen zu schielen, anstatt als eines der reichsten und technologisch am weitesten entwickelten Industrieländer mutig voranzuschreiten, hat die genannten Grundsätze ganz offensichtlich aus den Augen verloren.

Politik, die diese Prinzipien aber ignoriert, vertieft die Spaltung zwischen arm und reich, Gebildeten und weniger Gebildeten, macht die Schwachen schwächer und die Starken stärker, und sie beraubt sich gleichzeitig der Ressourcen, den damit verbundenen, immer häufiger aufflammenden Problemen Herr zu werden. Eine so handelnde Regierung gleicht dann mehr und mehr einem Feuerwehrmann, der sich selbst die Brände legt. Dass diese Art Brandstifter, nachdem sie das Feuer gelegt hat, sich anschließend besonders eifrig bei den Löscharbeiten zeigt und damit prahlt, noch Schlimmeres verhindert zu haben, lädt umso mehr dazu ein, dieses Bild auf die Politik zu übertragen: Man denke nur an die flammenden Reden, die die Regierenden für die Freiheit der Kapitalmärkte hielten und ihre Gesetzgebung, mit der sie der kopflosen Spekulation erst Tür und Tor öffneten. Seit dem Ausbruch des damit gelegten Flächenbrands, gerieren sich dieselben Politiker als besonders eifrige Mahner und Retter des Finanzsystems – freilich ohne die für die Spekulation verantwortliche Gesetzgebung zu ändern und so den nächsten Brand schon vorbereitend.

Die in den vergangenen Jahren in Deutschland praktizierte Politik kommt jedoch nicht nur in diesem Politikfeld dem Verhalten jenes Feuerwehrmannes ziemlich nahe. Sie war und ist – aus welchen Motiven auch immer – schlicht nicht länger auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und sozialen Fortschritt ausgerichtet. Wer die Entwicklung des Einzelnen mehr oder weniger sich selbst überlässt und entsprechend die vorhandenen, gravierenden Unterschiede in den Entwicklungsvoraussetzungen Einzelner nicht berücksichtigt und ihnen Rechnung trägt, muss auf dem Weg zu einer menschlichen Gesellschaft scheitern. Wer dabei noch die Schwachen unter Druck setzt, sie weiter schwächt und vom Weg abdrängt, anstatt sich ihrer Nöte und Ängste anzunehmen, sie zum Weitergehen zu befähigen und zu ermutigen und die zurückzulegende Strecke selbst leichter begehbar zu machen, stattdessen aber die ohnehin Erfolgreichen sogar noch bevorzugt, der hat der schon einmal erreichten Wegmarke den Rücken gekehrt und fällt immer weiter hinter diese zurück.

So verstanden, hat die deutsche Politik den Weg zu einer Gesellschaftordnung, die sich um sozialen Ausgleich bemüht und die den Einzelnen überhaupt erst dazu befähigt, sein Leben gleichberechtigt mit anderen zu führen, längst verlassen. Wer so handelt und dennoch das Wort Menschlichkeit in den Mund nimmt, wie es die Bundeskanzlerin auf ihrer Neujahrsansprache zuletzt unternommen hat, beraubt diesem Begriff auf unzulässige Weise jedes Sinns und seiner integrativen Kraft. Wer das nicht sieht und ebenso klar benennt, wird auch nicht überzeugend – weil selbst nicht überzeugt – und glaubwürdig – weil selbst nicht daran glaubend – zu einer anderen, buchstäblich fortschrittlichen Politik – von dem schon einmal erreichten Ausgangspunkt fortschreitend – zurückkehren und die Menschen auch nicht dazu bewegen können, diesen Weg mitzugehen.

Wer gestalten und nicht Entwicklungen hilflos hinterherrennen will, muss daher im aufgezeigten Sinne politisch tätig werden. Deswegen auch ist der berühmt-berüchtigte Satz des Altkanzlers Helmut Schmidt verkehrt bzw. gehört vom Kopf auf die Füße gestellt. Wer Visionen hat, so Schmidt einmal, solle zum Arzt gehen. Das Gegenteil ist richtig: Wer keine Visionen, also auch keine Vorstellung davon hat, wie die Dinge grundsätzlich zum Besseren gewendet werden können, wird am Ende dauernd zum Arzt rennen müssen, weil er eben die ursächliche Krankheit, die für seine Entwicklung verantwortlich ist, so nicht erkennen kann oder sie einfach nicht wahrhaben will. Ein guter Arzt wird ihm dann raten, seine Lebensweise grundlegend zu ändern und sich nicht mit dem Kurieren an Symptomen zufrieden geben.

Während in der Alltagssprache die Aussage, „hier läuft etwas grundsätzlich falsch“, durchaus geläufig ist, scheint sie in der Politik nicht mehr hoffähig. Wenn aber etwas grundsätzlich falsch läuft, macht es keinen Sinn und ist es wenig Erfolg versprechend, in die Niederungen der Tagespolitik zu flüchten und so zu versuchen, die immer häufiger auftretenden und immer schwerer wiegenden Probleme zu lösen. Es müssen, wenn es soweit gekommen ist, zuerst die politischen Grundsätze geprüft und neu bestimmt werden. Zuerst muss klar sein, aus welchen Gründen für wen Politik gemacht werden muss, daran machen sich dann die Aufgaben fest, die bewältigt werden müssen, und erst dann macht es Sinn, über die dafür notwendigen und geeigneten Maßnahmen zu diskutieren.

Die Frage, die sich Politiker in Deutschland vor diesem Hintergrund zuerst stellen müssen, lautet daher, ob sie Politik für die Menschen im aufgezeigten Sinne machen wollen, oder ob sie ihre Politik weiter in den Dienst derer stellen, die ihre Interessen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Vormachtstellung am vehementesten einfordern und durchsetzen können. Die deutsche Politik ist in den vergangenen Jahren eindeutig den Interessen der Mächtigen gefolgt; sie hat die Wünsche von Banken und Versicherungen, der Reichen und Vermögenden, der Gutverdienenden, auch der militärischen Bündnisse wie der NATO bedient und die Interessen der Anderen, der sozial Schwachen, der Rentner, der „Niedriglöhner und Aufstocker“, der Empfänger sozialer Leistungen, der Studierenden, der „Normalverdiener“, der Kleinunternehmer, der Menschen, die Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ablehnen, zurückgedrängt, sie in die Schranken gewiesen, was schon für sich genommen wieder ein vorrangiges Interesse der Mächtigen ist. Wer daran zweifelt, muss nur die Tagesmeldungen, die uns über die aktuellen politischen Entscheidungen informieren, darauf hinterfragen, wem sie zum Vorteil und wem sie zum Nachteil gereichen.

So verstanden, lässt sich die eingangs gestellte Frage auch in einem Satz beantworten: Politik wird gebraucht, um eine menschliche Gesellschaft, Frieden und den Schutz der Umwelt zu ermöglichen, versucht sie dies nicht oder verhindert sie dies gar, dann müssen sich politische Kräfte entwickeln, die diese Fehlentwicklung korrigieren und den Menschen eine Alternative aufzeigen. Schließlich gilt: Auch jeder politische Gegenentwurf, jede politische Opposition, muss sich an diesen Fragen und Ansprüchen messen lassen.


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