Dass die Bundesregierung kein beschäftigungspolitisches Ziel verfolgt, lässt sich anhand des „Makroökonomischen Hintergrundes“ feststellen, der ihrem „Nationalen Reformprogramm der Bundesrepublik Deutschland“ zugrundeliegt (1).
Die „Jahresprojektion der Bundesregierung vom 19.01.2011“ ermöglicht es, dies auch in genaueren Zahlen auszudrücken (2).
Um dies zu verdeutlichen, vor allem aber auch, um aufzuzeigen, in welchem Zeitrahmen Vollbeschäftigung möglich ist, wird hier die von Claus Köhler beschriebene Berechnungsmethode zur Verringerung der Arbeitslosigkeit zugrundegelegt (3).
Zunächst aber: Was ist Vollbeschäftigung? Claus Köhler führt hierzu aus: „Ein hohes Beschäftigungsniveau ist nicht erst erreicht, wenn die Arbeitslosenquote Null beträgt. Sie ist nicht zu erreichen. Stets gibt es eine gewisse Arbeitslosigkeit. Sie wird durch Arbeitsplatzwechsel und saisonale Einflüsse hervorgerufen. Man hat davon auszugehen, dass ein hohes Beschäftigungsniveau bei einer Arbeitslosenquote von 3 % erreicht ist. Diese Arbeitslosenquote ist die normative Arbeitslosenquote.“ (3, S. 26) Nennen wir sie weniger technisch: Vollbeschäftigung.
In Tabelle 1 ist nun das Ziel unterstellt, die Arbeitslosenquote jedes Jahr um 1 % zu senken (Erläuterungen zur Tabelle siehe am Ende des Textes).
Tabelle 1: Verringerung der Arbeitslosigkeit um 1 % jährlich
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1+ALQ |
w(1+ALQ) |
wY* |
Angemessenes wYr |
Projektion der Bundesregierung wYr |
Differenz Proj. wYr – Angem. wYr |
2010 |
1,07 |
- |
- |
- |
- |
- |
2011 |
1,06 |
-0,94 |
1,4 |
2,34 |
2,30 |
-0,04 |
2012 |
1,05 |
-0,95 |
1,5 |
2,45 |
1,80 |
-0,65 |
2013 |
1,04 |
-0,96 |
1,4 |
2,36 |
1,60 |
-0,76 |
2014 |
1,03 |
-0,97 |
1,4 |
2,37 |
1,60 |
-0,77 |
Würde die Bundesregierung dieses beschäftigungspolitische Ziel vorgeben, ließe sich – die in ihrer eigenen Projektion für 2010 zugrundegelegte Arbeitslosenquote (6,7 bzw. 6,9 %) unterstellt – in nur vier Jahren Vollbeschäftigung erreichen. Die dafür notwendigen realen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (Angemessenes wYr) von jährlich rund 2,3 bis 2,5 % erscheinen nicht utopisch. Die Wachstumsprojektionen der Bundesregierung liegen jedoch darunter. Ausgeklammert bleiben hier die vielen faktisch Arbeitslosen, die die Arbeitslosenstatistik der Bundesregierung nicht länger erfasst: “2,9 Millionen Menschen sind arbeitslos gemeldet. Mindestens weitere zwei Millionen sind irgendwo versteckt. In Fortbildungsmaßnahmen, an deren Ende sehr oft erneute Arbeitslosigkeit wartet. In erzwungener Frührente, von der sich ohne Unterstützung auch nach einem langen Arbeitsleben nicht anständig leben lässt.” (
4) Der Abbau der tatsächlichen Arbeitslosigkeit wird die hier gewählte Zeitrechnung verändern.
In Tabelle 2 ist das ehrgeizigere Ziel unterstellt, die Arbeitslosenquote jedes Jahr um 2 % zu senken. Die hierfür notwendigen Wachstumsraten von über drei Prozent erscheinen jedoch zumindest unter den hier zugrundegelegten Annahmen und Zahlen nicht realistisch.
Angesichts der in Tabelle 1 präsentierten Zahlen muss sich jedoch nicht nur die Bundesregierung schelten lassen, sondern auch die SPD: Sie schreibt in ihrem am 12. April veröffentlichten „Zukunftsentwurf für Deutschland“ staatstragend: „Erstmals seit Jahrzehnten haben wir die historische Chance, Vollbeschäftigung zu erreichen.“ Und setzt kämpferisch nach: „Das ist unser Ziel: Arbeitslosigkeit nicht nur zu bekämpfen, sondern zu besiegen.“ (5) Aber auch sie versäumt es, ein konkretes beschäftigungspolitisches Ziel mit einem konkreten Zeithorizont vorzugeben. Das Arbeitsprogramm der SPD-Bundestagsfraktion heißt „Deutschland 2020 Vollbeschäftigung, Fortschritt, Lebensqualität im neuen Jahrzehnt“ (6). Vor dem Hintergrund der in Tabelle 1 aufgezeigten Zahlen erscheint das nicht eben ehrgeizig. Der Jahreszahl 2020 liegt dann auch keine kalkulierte beschäftigungspolitische Zielsetzung zugrunde. Eher ist zu vermuten, dass sie von einer Werbeagentur erfunden wurde, der die Eingängigkeit einer Jahreszahl wichtiger ist, als nachvollziehbare und realisierbare politische Zielsetzungen: 2020 klingt doch nun wirklich visionärer als 2014 – glaubwürdiger indes nicht.
Die SPD lügt sich darüber hinaus in die eigene Tasche – und täuscht ihre potenziellen Wählerinnen und Wähler – wenn sie in ihrem „Zukunftsentwurf“ behauptet: „Erstmals seit Jahrzehnten haben wir die historische Chance, Vollbeschäftigung zu erreichen.“ Die SPD hatte diese Chance seit sie 1998 Regierungsverantwortung übernahm. Sie hat sie nicht genutzt! Auch damals hatte die SPD sich kein beschäftigungspolitisches Ziel gesetzt (vergleiche hierzu auch Köhler, 3). Bleibt zu hoffen, dass dieser Entwurf für eine Zukunft noch an Inhalt und Ehrlichkeit gewinnt. Hierzu möchten die hier ausgeführten kurzen Überlegungen gern beitragen.
Tabelle 2: Verringerung der Arbeitslosigkeit um 2 % jährlich
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1+ALQ |
w(1+ALQ) |
wY* |
Angemessens wYr |
Projektion der Bundesregierung wYr |
Differenz Proj. wYr – Angem. wYr |
2010 |
1,07 |
- |
- |
- |
- |
- |
2011 |
1,05 |
-1,90 |
1,4 |
3,30 |
2,30 |
-1,00 |
2012 |
1,03 |
-1,94 |
1,5 |
3,44 |
1,80 |
-1,64 |
2013 |
1,01 |
-1,98 |
1,4 |
3,38 |
1,60 |
-1,78 |
Erläuterungen zu den Tabellen: ALQ = Arbeitslosenquote, wY* = Potenzialwachstum, wYr = reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes; eigene Berechnungen; zur Berechnungsmethode vgl. auch Köhler (3)
Quellen:
(1) Florian Mahler, Adieu Vollbeschäftigung, www.wirtschaftundgesellschaft.de
(2) Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Bundesministerium der Finanzen, Gesamtwirtschaftliches Produktionspotenzial und Konjunkturkomponenten, Datengrundlagen und Ergebnisse der Schätzungen der Bundesregierung, Stand: Jahresprojektion der Bundesregierung vom 19.01.2011
(3) Claus Köhler, Orientierungshilfen für die Wirtschaftspolitik, Veröffentlichungen des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Band 41, Berlin 2004
(4) Hans Peter Schütz, Jahreswirtschaftsbericht, Brüderles Protzerei, 20. Januar 2011
(5) Zukunftsentwurf für Deutschland, SPD erarbeitet Modernisierungskonzepte, 12.04.2011, www.spdfraktion.de
(6) Deutschland 2020, Vollbeschäftigung, Fortschritt, Lebensqualität im neuen Jahrzehnt, Arbeitsprogramm der SPD-Bundestagsfraktion, Fraktionsklausur am 13./14. Januar 2011 in Magdeburg, www.spdfraktion.de
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