Sarrazins geschichtsvergessene Statistik (31.10.2010)

Wenn es noch eines Beweises bedarf, wie unseriös der „Bildungsbürger“ (so das Prädikat von Frank Schirrmacher) Dr. rerum politicarum Thilo Sarrazin mit Statistiken arbeitet, hat er ihn im Interview mit der Bild am heutigen Sonntag geliefert.

Auf die Aussage des Bundespräsidenten angesprochen, dass das Christentum Teil der Türkei sei, antwortet Sarrazin: „Die Zahlen sprechen da eine deutliche Sprache: Gab es 1914 noch 25 Prozent Christen in der Türkei, sind es heute gerade noch 0,2 Prozent.“

Sarrazin vergleicht also die Türkei heute mit der von 1914. Mit diesem Vergleich begeht Sarrazin gleich zwei schwerwiegende Fehler. Oder darf man ihm als geschultem Volkswirt hier getrost gezielte Manipulation unterstellen?

1914 war „die Türkei“ noch das Osmanische Reich. Es reichte im Westen über Damaskus, Jerusalem, Medina und Mekka hinunter bis zum Golf von Aden; im Osten erstreckte es sich über Bagdad und Basra weit hinunter an den Persischen Golf. Die heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Saudi Arabien, Jemen, Iran, Irak und Kuwait gehörten 1914 teilweise oder zur Gänze zum Osmanischen Reich, das Sarrazin zum Vergleich mit der heutigen Türkei heranzieht.
Ich bin kein Kenner der historischen Geographie dieser Weltregion, aber ein einfacher Blick auf historische Karten führt zu dieser Erkenntnis (siehe und vergleiche hierzu z.B.: http://looklex.com/e.o/atlas/h-ottomans.htm, Ottoman Empire, Selected Years, 1914 und Today; ebenfalls: http://mondediplo.com/maps/middleeast1914 und http://mondediplo.com/maps/middleeast1939).
Die Bild-Journalisten, die Sarrazin interviewt haben, sicherlich auch Bildungsbürger ersten Ranges, hat das anscheinend nicht gestört, sonst hätten sie Sarrazin sicherlich kritisch auf seinen entblödeten Vergleich angesprochen.
Der zweite Fehler, bzw. die zweite Manipulation: Sarrazin blendet bewusst oder unbewusst – beides ist gleichermaßen erschreckend – den 1915 begangenen Völkermord an den christlichen Armeniern aus, dem Studien zufolge 600.000 bis 1,5 Millionen Menschen, zwei Drittel (!) der auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches lebenden Armenier, zum Opfer fielen.
In der Cambridge History of Turkey finden sich folgende Angaben zur Bevölkerung in der Türkei in den nach dem ersten Weltkrieg neu gezogenen Grenzen. Mit dieser neuen Grenzziehung wurden übrigens auch die griechischen Christen gezwungen, die Türkei zu verlassen – umgekehrt kamen bei diesem erzwungenen Austausch der christlichen und muslimischen Bevölkerungen eine halbe Million Muslime aus Griechenland in die Türkei. Demnach hatte sich zwischen 1914 und 1923 die türkische Bevölkerung um drei Millionen auf 13 Millionen verringert – und schon damals waren 98 Prozent der Bevölkerung Muslime (Andrew Mango, Atatürk, in: The Cambridge History of Turkey, Volume 4, Turkey in the Modern World, S. 159 f., Cambridge University Press 2008; die von Mango zugrunde gelegte Statistik unterscheidet schon im Titel zwischen Osmanischem Reich und Türkei: Cem Behar, The Population of the Ottoman Empire and Turkey, Ankara, State Institute of Statistics 1996).
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, aktuelle Probleme der Christen in der Türkei zu verharmlosen. Dazu würde ich mich mit meinem derzeitigen Wissensstand nicht wagen zu äußern. Es geht hier um nicht mehr – aber eben auch um nicht weniger – als auf die Mittel zu verweisen, mit denen Sarrazin die Öffentlichkeit manipuliert und Misstrauen, Angst und Zwietracht sät.
Franz Werfel hat in seinem großen Roman, „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, nicht allein dem Völkermord an den Armeniern ein Denkmal gesetzt, sondern auch allgemein der den Menschen vorbehaltenen Fähigkeit, sich gegenseitig zu erniedrigen und anzufeinden. Wohl um sich selbst bei aller Betroffenheit über das unfassbare Leid vor zu großer Schwarzweißmalerei zu warnen, hat sich Werfel dazu übrigens bei der Durchsicht seiner Niederschrift an den Rand geschrieben: „Nicht gegen Türken polemisieren.“
Werfel spricht in seinem auf historischen Forschungen basierenden Roman das „fassungslose Nicht-Begreifen einer Welt (an), in der zum Geist verpflichtete Wesen, anstatt in die Wonne der Definitionen, Formeln und Verse einzudringen, sich mit fanatischem Gurgelabschneiden befassen.“
Und er lässt den deutschen Pastor Lepsius, der sich mit all seiner Kraft für die in Not geratenen einsetzte und damit auch in Deutschland ziemlich allein dastand, vor türkischen Muslimen sprechen, die sich nicht zu Handlangern des Genozids machten und Armeniern halfen zu überleben: „Ich bin Christ, christlicher Priester sogar, dennoch bekenne ich hier vor Euch gerne, dass ein großer Teil der Christen, die mir begegnet sind, aus gleichgültigen und gottlosen Lippendienern besteht.“ Und weiter: „Als Christ glaube ich, das unser Herr im Himmel die Verschiedenheit um der Liebe willen schuf. Denn ohne Verschiedenheit und Spannung ist ja keine Liebe möglich.“
Wie universell und aktuell und wie versöhnlich dieser tiefgründige Stoff des von den Deutschen verfolgten Juden Franz Werfel aus dem Jahr 1933 doch ist. Es wäre daher auch, weit über Sarrazin hinausgehend, wünschenswert, wenn sich diejenigen, die sich jetzt besonders lautstark auf eine „christlich-jüdische Leitkultur“ berufen, sich dieses Menschen und seiner Geisteshaltung erinnern würden.


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