Zufall, oder nicht? Während ich den Gastkommentar von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel im Tagesspiegel, “Es geht um die Wiederentdeckung der sozialen Gesellschaft“, lese, höre ich Bob Dylans “Times – They Are a Changing“. Gerade krächst Dylan aus dem Lautsprecher: “…you’d better start swimming or you’ll sink like a stone, for the times, they are a changing…” Ich stelle mir vor, Gabriel hat seinen Gastkommentar nicht nur selbst geschrieben, sondern auch diesen Dylan-Song dazu im Hintergrund gehört. Wer weiß. Wenn ja, muss er ihn gründlich missverstanden haben: statt beherzt loszuschwimmen gerät er mächtig ins Schwimmen – und der Leser mit ihm.
Und was ist hiermit: “Viele Menschen haben das Gefühl, Politik habe keinerlei Sachbezug mehr, sondern sei nur ein zynisches Spiel um Macht und Machterhalt. Die aktuelle Bundesregierung liefert dafür jeden Tag einen neuen Beweis.” So Gabriel. Die SPD etwa nicht? Was ist etwa mit der inhaltsleeren Kanzlerkandidatendebatte in der SPD? Was ist mit dem abgewürgten Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin? Was ist mit der Position der SPD zum Nato-Einsatz in Libyen? Für welche Inhalte steht die SPD? Wie verhält sie sich zu ihrer eigenen, in ihrer Regierungsverantwortung ausgeübten Politik – Agenda 2010, “Verteidigung Deutschlands am Hindukusch”, Rente mit 67, Niedriglohnsektor, Liberalisierung der Finanzmärkte – deren Folgen sie jetzt als Opposition wenig beherzt und schon gar nicht “behirnt” angreift? Noch einmal: “Good morning Parallelwelt!”
Dann folgt allerdings ein wahrer Satz: “Die Demokratie lebt aber davon, dass Menschen ihren gewählten Vertretern nicht nur etwas abfordern, sondern auch etwas zutrauen.” Wann aber haben die Menschen ihren gewählten Vertretern denn zuletzt etwas abverlangt? 1998 vielleicht, als die Sozialdemokratie mit einem sozialen Versprechen an eben diese Wähler in die Regierung gewählt wurde - die Wähler stattdessen aber Sozialabbau, Einkommens- und Vermögenskonzentration noch nie dagewesenen Ausmaßes und Krieg geliefert bekamen? Und hätte Gabriel nicht viel eher fragen müssen, warum die Menschen ihren gewählten Vertretern eben immer weniger zutrauen – und konsequenterweise immer weniger Zutrauen zu ihren so genannten Volksvertretern haben, sich von ihnen ergo immer weniger vertreten fühlen? “Good Morning Parallelwelt!”
Und im folgenden Satz kulminiert das Worthülsenspiel zur – nennen wir es höchsten Worthülsenreife: “Nicht Rechts- oder Linksradikale sind die wahren Gefahren für die Demokratie, sondern Ohnmacht, Apathie und Politikverachtung. Es kommt deshalb vor allem darauf an, Menschen wieder Mut zur Beteiligung zu machen.”
An diesem Satz ist so ziemlich alles falsch bzw. vernebelt. 1. Natürlich sind vor allem Rechtsradikale eine Gefahr für die Demokratie. 2. Richtig wäre gewesen zu schreiben: Ohnmacht, Apathie und Politikverachtung bilden eine zentrale Grundlage vor allem für den Rechtsradikalismus, noch mehr aber dafür, dass sich die Menschen auch ohne einem wie auch immer gearteten Radikalismus zuzuneigen (vorerst jedenfalls) immer zahlreicher von der Parteipolitik abwenden. Vor allem käme es daher darauf an, dass die Parteien sich fragen - dass Gabriel sich fragt -, was denn die zunehmende Ohnmacht, Apathie und Politikverachtung verursacht hat. Zu Gabriels: “Es kommt deshalb vor allem darauf an, Menschen wieder Mut zur Beteiligung zu machen”, lässt sich dann wiederum nur noch sagen: “Good morning Parrallelwelt!”
Gabriel spricht dann von der Notwendigkeit einer “Idee für Deutschland und Europa” – liefert diese aber nicht bzw. bleibt äußerst allgemein, indem er eine Gesellschaft postuliert, die mehr sein muss, als ein gemeinsamer Markt. Das ist nun nicht falsch, aber auch nicht gerade tiefschürfend. Die Mehrheit der Bürger weiß das längst – nur hat die Politik, und leider in längster Regierungsverantwortung seit Ende der 90er Jahre die SPD – nicht nur nicht geliefert, sondern das glatte Gegenteil gesetzmäßig durchgeboxt. Die Idee der SPD für Deutschland war – und ist – die Agenda 2010; ihre Idee für Europa der Lissabon-Vertrag, der eben genau die von Gabriel kritisierte Marktgesellschaft per Gesetz festschreibt. Wenn Gabriel es also ernst meinte, hätte er eben zu diesen beiden großen, aber eben marktradikalen Politikentwürfen etwas sagen müssen! Statt dessen schreibt er: “Diese soziale Gesellschaft ist zugleich das Leitbild für Europa und unser europäisches Angebot in der Welt.” “Good morning Parallelwelt!”
Gabriel schreibt von einer “Wiederentdeckung der sozialen Gesellschaft”, liefert aber nicht im Ansatz ein Verständnis über die Grundlagen hierfür und kommt so über ein oberflächliches “Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb” nicht hinaus. Und kaum wird er einmal konkreter, zeigt er, dass er keine guten ökonomischen Berater hat bzw., wenn er diese hat, ihnen nicht richtig zuhört: “Aber ein paar Dinge liegen doch auf der Hand: die Schulden müssen runter – Innovation müssen rauf”, schreibt Gabriel. Und: “Deutschland muss endlich auch bei Bildung und Betreuung an die Weltspitze.” Tja, so funktioniert Volkswirtschaft aber nun einmal nicht. Wer wie Deutschland schon über Jahre rund 25 Mrd Euro jährlich weniger für Bildung ausgibt als auch nur der Durchschnitt aller OECD-Länder, müsste eben allein schon hier deutlich mehr Geld in die Hand nehmen, um kumulierte Missstände zu beseitigen bzw. aufzuholen. Dafür müsste sich unser Staat dann aber eventuell erst einmal stärker verschulden und nicht mit den Schulden runter gehen. Vor nicht einmal einem Jahr hat Gabriel aber mehrfach betont, dass er staatliche Mehreinnahmen ausschließlich für den Schuldenabbau einsetzen will – und meinte sich darüber sogar noch von der Kanzlerin und ihrer Koalition abzugrenzen. Genau das, lieber Sigmar Gabriel, überzeugt den mündigen Wähler nicht, nicht einmal den aufgeklärten Grundschüler, der zu Ihrem Glück noch nicht wählen darf. Übrigens, die in dem hier verstandenen Sinne kontraproduktive Schuldenbremse ist auch und vor allem ein Kind der SPD!
Bände spricht auch der folgende Satz: “Einsparungen, Subventionsabbau und auch etwas höhere Steuern auf große Vermögen und Einkommen sind dafür notwendig.” Die Betonung liegt auf “etwas”. Dass Gabriel nicht etwa von “etwas” Einsparen und “etwas” Subventionsabbau” spricht, wohl aber große Vermögen und Einkommen nur “etwas” mehr antasten möchte, um das Gemeinwohl zu stärken, das zeigt nur, dass Gabriel immer noch nicht schwimmen gelernt hat; er sinkt stattdessen wie ein Stein hinab in den Ozean der Worthülsen, in dem auch die Regierung vergeblich versucht sich freizuschwimmen. Das zeigt auch sein erneuter Abgrenzungsversuch gegenüber der Regierung: “Der zentrale Unterschied zwischen der heutigen Regierung unter ‘Führung´ der Union und der künftigen unter der Führung der SPD wird sein, dass wir den Bürgern zumuten und zutrauen, über das zu sprechen, was gut für das Ganze ist – statt immer nur an ihren Egoismus und ihre Einzelinteressen zu appellieren.” Mal ganz abgesehen davon, dass Gabriels “zumuten und zutrauen” üble Erinnerungen an das Schröderische “fordern und fördern” wachruft: Dieser Satz hätte auch aus dem Mund der Kanzlerin stammen können; einziger Unterschied: Sie hätte SPD und Union in der “Aussage” entsprechend umgestellt.
So wird das nichts mit der “Wiederentdeckung der sozialen Gesellschaft”, lieber Sigmar Gabriel! Zurück auf Los und nochmals frisch auf die Suche gemacht. Entweder selbst noch einmal drüber nachdenken oder einen neuen Berater! Am besten beides. Apropo “Mut zur Beteiligung”: Mein Angebot steht! Denn an einem mangelt es der Parteipolitik gewiss auch: Am Mut, kritische Köpfe an der Mitarbeit in ihren Apparaten wirksam zu beteiligen. Ohne diese wird der Ausbruch aus der Parallelwelt aber schwerlich gelingen, noch weniger die Wiederherstellung einer sozialen Gesellschaft.
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