Als Financial Times Deutschland (FTD)-Leser habe ich im Juni einen Brief der WirtschaftsWoche erhalten. Betreff: „Die WirtschaftsWoche Umfrage Juni 2005“.
Der Verfasser des Briefes informiert mich, „dass das Informationsangebot in den vergangenen 25 Jahren um 1.200% angewachsen ist.“ Er macht mich darauf aufmerksam, dass viele Informationen interessant seien, aber nur wenige relevant, und dass ich (im Brief unterstrichen) „eine klare Orientierung“ und (wieder unterstrichen) „eine gezielte Auswahl der Fakten“ bräuchte. Dies – genauer „das, was Sie geschäftlich und privat wissen müssen“ – würde mir „Deutschlands entscheidendes Wirtschaftsmagazin“ liefern.
Weiter heißt es: „In Umfragen unter den Lesern hinterfragen (! hier erlaube ich mir aufgrund der weiter unten vorgenommenen Ausführungen schon einmal jetzt ein Ausrufezeichen zu setzen, T.H.) wir regelmäßig die Meinung zu wichtigen Themen, Trends und Ereignissen. Um vergleichen zu können, interessiert uns heute Ihre Meinung, denn Sie gehören zu dem ausgewählten Personenkreis, der die WirtschaftsWoche noch nicht regelmäßig nutzt und mit dem wir heute das Panel der Befragten erweitern wollen.“ Für das Ausfüllen des beiliegenden Fragebogens winken mir dann als Dankeschön „10 Ausgaben der jetzt noch informativeren WirtschaftsWoche mit 35% Preisvorteil für nur…“ Und dann folgt noch ein wichtiger Hinweis: „In Deutschlands großem, aktuellen Wirtschaftsmagazin für Entscheider analysiert jede Woche eine Redaktion mit rund 100 Experten die wichtigsten Entwicklungen in der deutschen und internationalen Wirtschaft. Mit einer Prognoseleistung, die ihresgleichen sucht. Kein anderes deutsches Magazin bietet mehr Wirtschaft.“
Interessant, denke ich, endlich einmal jemand, der „hinterfragt“. Als ich neulich die Vokabel „hinterfragen“ bei einem angenehm unterhaltsamen Abendessen mit Freunden in die Diskussion streute, machte sich immerhin freudiges Erstaunen auf den Gesichtern breit und im nächsten Augenblick wurde gerätselt, wann und wo denn dieses Verb zuletzt gehört worden sei? Schnell war man bei der Studienzeit angelangt, die – wie schnell doch die Zeit vergeht – doch bestimmt schon zwei Jahrzehnte zurück lag.
Ich schaue auf den einseitigen Fragebogen der WirtschaftsWoche; um genau zu sein, das untere Drittel der Seite war schon der Antwortkarte und der Werbung vorbehalten. Anstatt der erwarteten Fragen – und wer würde unter der in großen Lettern gehaltenen Überschrift „Die WirtschaftsWoche Umfrage Juni 2005“ nicht Fragen erwarten? – werde ich jedoch mit Stellungnahmen konfrontiert, die WirtschaftsWoche-Leser in den letzten Monaten zu aktuellen Fragen vorgenommen haben. Auf diese Stellungnahmen werde ich gebeten zu antworten. „Was denken Sie?“, fragt mich die WirtschaftsWoche und bietet mir drei Antworten zur Auswahl: 1. „Stimme ich zu“, 2. „Stimme ich nicht zu“, 3. „Keine Meinung“.
Und das Sagen die Leser der Wirtschaftswoche:
„79% glauben, dass eine pauschale Kapitalismuskritik dem Standort Deutschland massiv schadet.“
Ich überlege. Ich hinterfrage.
Ich denke, dass die meisten Leser, ja die meisten Menschen, die so gestellte Frage bzw. Stellungnahme aufgrund des Adjektivs „pauschal“ mit „Stimme ich zu“ beantwortet haben und beantworten werden. Das Wort „massiv“ empfinde ich ebenfalls auf eine gewisse Art und Weise – aufdringlich. Nun bin ich ja auch kein Experte, was Umfragen anbelangt, denke ich, wie aber würde wohl die Antwort ausfallen, wenn die Stellungnahme lauten würde:
„79% glauben, dass eine differenzierte Kapitalismuskritik dem Standort Deutschland massiv schadet.“
Oder noch neutraler als Frage formuliert:
„Denken Sie, dass eine differenzierte Kapitalismuskritik dem Standort Deutschland schadet?“
Oder gar:
„Denken Sie, dass eine differenzierte Kapitalismuskritik den Standort Deutschland voranbringt?“
Vielleicht hätte man vor dem Hintergrund, dass das Wort Kapitalismus doch alles andere als neutral besetzt ist, den Leser auch einfach fragen sollen:
„Denken Sie, dass eine differenziertere Auseinandersetzung über die gegenwärtige Wirtschaftssituation in Deutschland und über mögliche wirtschaftspolitische Lösungswege dem Standort Deutschland schadet?“
Die anderen Stellungnahmen der „WirtschaftsWoche Umfrage“ sind – von der Wortwahl ausgehend – vielleicht weniger kritisch. Sie lauten wie folgt:
„61% fühlen sich trotz der ständig steigenden Flut an Informationen richtig und rechtzeitig informiert.“
„54% sehen für Deutschlands Top-Hersteller die Chance, sich mit intelligenten Produktkonzepten gegen die Billigkonkurrenz zu behaupten.“
„68% glauben, dass mehr Wettbewerb und eine stärkere Leistungsorientierung im Bildungsbereich notwendig sind.“
„46% sind der Meinung, dass gerade jetzt ein günstiger Zeitpunkt für größere Anschaffungen ist.“
Dabei frage ich mich natürlich schon, wie sich die Gehälter derjenigen WirtschaftsWoche-Leser in den letzten Jahren und Monaten entwickelt haben, dass für immerhin 46% der Befragten gerade jetzt ein günstiger Zeitpunkt für größere Anschaffungen ist? – Zumindest scheint die Ausgabelust der Befragten WirtschaftsWoche-Leser keinen wesentlichen Einfluss auf den Gesamtkonsum in Deutschland auszuüben. Immerhin gingen die privaten Konsumausgaben im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorquartal um 0,2% zurück; im Vergleich zum ersten Quartal 2004 lagen sie sogar um fast ein Prozent niedriger (vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 24. Mai 2005, Ausführliche Ergebnisse zur Wirtschaftsleistung im 1. Quartal 2005, www.destatis.de).
Ich frage mich auch, was denn der Gehalt der Aussage ist, „dass mehr Wettbewerb und eine stärkere Leistungsorientierung im Bildungsbereich notwendig sind“. Wäre es angesichts der knappen Mittel an den Schulen und Hochschulen nicht wichtiger zu fragen oder zu attestieren gewesen, dass mehr Mittel für den Bildungsbereich zur Verfügung gestellt werden müssten, um den immer weiter wachsenden Ansprüchen der Wirtschaft und Gesellschaft auch zukünftig gerecht werden zu können. Und dass mehr Wettbewerb um die knappen Haushalte und die damit verbundenen erschwerten Bedingungen wohl kaum einer erhöhten Leistungsorientierung förderlich sein können. Es sei denn man verstünde unter „stärkerer Leistungsorientierung“ die Bereitschaft der Menschen für immer weniger immer mehr zu leisten.
Ich denke abschließend nur, dass ich auch weiterhin zu dem „ausgewählten Personenkreis, der die WirtschaftsWoche noch nicht regelmäßig nutzt“, gehören werde, wie es die WirtschaftsWoche in ihrem Anschreiben durchaus treffend formuliert hat. Und ich sorge mich ein Mal mehr um unsere Wirtschaftspresse, wenn es stimmt, dass kein anderes deutsches Magazin mehr Wirtschaft bietet. Schließlich hoffe ich noch, dass die mit rund 100 Experten besetzte Redaktion der WirtschaftsWoche die wichtigsten Entwicklungen in der deutschen und internationalen Wirtschaft genauer analysiert, als es für mich diese „Umfrage“ suggeriert.
(9. Juli 2005)
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