Weihnachtsansprachen, darin werden mit mir die meisten Leser übereinstimmen, tun in der Regel niemandem weh. Hat jetzt
Bundespräsident Wulff diese Regel durchbrochen?
Wenn Sie den Bundespräsidenten nicht gehört haben, oder dabei eingeschlafen sind, hier noch einmal ein Stück Redetext, der doch unübersehbar politischen Sprengstoff enthält. Bundespräsident Wulff:
“Zusammenhalt, Verständigung, Miteinanderauskommen: All das geschieht nicht von allein. Dafür muss man etwas tun. Unsere Gesellschaft lebt von denen, die sehen, wo sie gebraucht werden, die nicht dreimal überlegen, ob sie sich einsetzen und Verantwortung übernehmen.
Einige dieser Menschen habe ich heute Abend ins Schloss Bellevue eingeladen. Sie haben sich in diesem Jahr für andere, mit anderen gemeinsam eingesetzt. Aus unterschiedlichen Gründen und Motiven. Obwohl sie alle verschieden sind, liegt es an ihnen und an vielen anderen, die so handeln wie sie, dass unser Land zusammengehalten wird: von Solidarität und von dem gemeinsamen Füreinandereinstehen.”
Ist das etwa nicht ein Frontalangriff auf die Bundeskanzlerin und ihre Ministerinnen und Minister?
Haben Sie als Leser, Zuschauer oder Zuhörer des Bundespräsidenten da etwa nicht spontan aufgeschrien, oder, wenn die Weihnachtsgans noch allzusehr gedrückt hat, auch nur aufgestöhnt:
“Kein Wunder, dass er Merkel und ihre Mannschaft nicht ins Bellevue eingeladen hat!”
Blicken wir gemeinsam zurück: Der Streit um die lächerliche Hartz-IV-Erhöhung, weitere Verschärfung der Zwei-Klassen-Medizin, “Merkel erklärt Multikulti für gescheitert”, “Merkel kündigt Härte gegen Integrationsunwillige an”, sie gibt sich aber nicht nur im eigenen Land integrationsunwillig: über deutsche Grenzen hinweg überzieht sie ganz Europa mit ihrer Sparwut – ganz Europa? Nicht ganz: deutsche Banken, Großunternehmen und Vermögende natürlich ausgenommen; denen hat sie ja die Milliarden nur so hinterher geworfen: Bankenrettung, Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, immer noch kein Mindestlohn, immer noch werden die Millionäre und Milliardäre nicht stärker zur Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen, von der Wiedererhebung einer Vermögenssteuer, der Wiedereinführung einer Börsenumsatzsteuer, einem höheren Spitzensteuersatz, der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze bei den Sozialversicherungen ist nicht einmal die Rede, die Banken und andere Finanzjongleure spielen schon wieder drauflos wie zu Zeiten vor der Finanzkrise, der sinnlose und menschenverachtende Krieg in Afghanistan, als dessen Botschafter sich die Kanzlerin und ihr Frontstar zu Guttenberg gerade vor Weihnachten medienwirksam, zynisch volksverdummend präsentierten, und und und.
Und da stellt sich der Bundespräsident hin und sagt:
“Zusammenhalt, Verständigung, Miteinanderauskommen: All das geschieht nicht von allein. Dafür muss man etwas tun. Unsere Gesellschaft lebt von denen, die sehen, wo sie gebraucht werden, die nicht dreimal überlegen, ob sie sich einsetzen und Verantwortung übernehmen.”
Für wen, wenn nicht die Bundeskanzlerin und ihre Führungsriege, sollen diese Worte
denn sonst bestimmt gewesen sein?
Folgerichtig unterscheidet der Bundespräsident in seiner Ansprache auch zwischen dem “Staat” und “Menschen, für die Menschlichkeit wichtig ist.” Das wäre, sagen wir, der Präsidentin der Republik Finnland nicht eingefallen. Sie hätte auch keinen Grund dazu!
Vernichtend für die Regierung fallen auch die folgenden Worte des Bundespräsidenten aus, bezieht man sie auf die Politik der schwarz-gelben Koalition:
“Unsere Gesellschaft ist frei und bunt: Wir leben in verschiedenen Lebenswelten, wir sind unterschiedlich, was unsere Herkunft angeht, unsere Religion, unsere Bildung und unsere Träume vom Glück.
Damit eine Gesellschaft aus so vielfältigen Menschen Bestand hat, brauchen wir vor allen Dingen: Respekt. Respekt vor dem, der anders ist als man selbst. Und Anerkennung auch seiner Leistungen.
Respekt schon vor den Kindern und ihren Bedürfnissen. Anerkennung dessen, was ihre Mütter und Väter leisten. Respekt und Anerkennung vor der Lebensleistung der Älteren.
Jeder muss spüren: Ich gehöre dazu, ich werde gebraucht.
Zusammenhalt, Verständigung und Miteinanderauskommen: Das gilt auch für die Beziehungen zu all unseren Partnern in der Welt.”
Später plädiert Wulff sogar noch für Arbeitszeitverkürzung, wenn er sagt:
“Im Weihnachtsbaum hier hängen Sterne, auf die Kinder ihre Wünsche geschrieben haben. Wissen Sie, was die meisten Kinder von Ihren Eltern gern hätten? Mehr Zeit. Das wünschen sich meine Kinder übrigens auch. Nehmen wir uns die Zeit füreinander.”
Das ist doch nun einmal wahrlich eine Grundsatzrede, da ist alles drin: Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik, Lohn- und Rentenpolitik, Außenpolitik, kurzum: die Rede des Bundespräsidenten verweist in wenigen Sätzen auf all die Defizite der Bundesregierung, und das so umfassend, dass einem schwindelig werden könnte.
Ich stelle mir vor, wie die Kanzlerin, vor lauter Wut über die Rede des Bundespräsidenten und zum Entsetzen ihres Mannes, den neben dem heimischen Fernseher stehenden Weihnachtsbaum aus seinem Sockel gerissen hat. Zum Glück wird sie, aus Solidarität mit der Atomlobby, elektrische Weihnachtskerzen benutzt haben, so dass zu keinem Zeitpunkt Brandgefahr bestand.
Nach dieser Rede kann kein Zweifel mehr bestehen: bei diesem Bundespräsidenten handelt es sich um die meist unterschätzte Persönlichkeit in diesem Amt, er ist der kritischste und politischste Bundespräsident, den wir je hatten.
“Friede auf Erden.” (Wulff)
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