Was die Kanzlerkandidaten vom Kleinen Prinzen lernen können (03.10.2005)
Man könnte meinen, die gerade abgehaltene Bundestagswahl habe nur Gewinner hervorgebracht. Gleich zwei Kanzlerkandidaten fühlen sich berufen, die Leitlinien der Politik zu bestimmen. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Beide großen Volksparteien, die CDU und die SPD, haben deutliche Stimmenverluste hinnehmen müssen. Gegenüber der letzten Bundestagswahl hat die CDU anteilig über drei, die SPD über vier Prozent der Stimmen verloren. Das hat die Parteimitglieder nicht daran gehindert, ihrer Kandidatin und ihrem Kandidaten für das Kanzleramt begeistert zu applaudieren. Was kennzeichnet die Politik beider Parteien und ihrer Kanzlerkandidaten aber, das den mangelnden Zuspruch der Wähler erklären könnte?

 

Vielleicht kann der Kleine Prinz hier etwas Licht ins Dunkel bringen. Denn schon die erste Begegnung auf der Reise, die der Kleine Prinz unternimmt, „um sich zu beschäftigen und zu bilden“, lehrt ihn in der Kunst der Staatsführung.

Der Kleine Prinz besucht zuerst den Asteroiden 325, einen von sechs in seiner Region. Der auf jenem Asteroiden 325 herrschende und sehr auf seine Autorität bedachte König erklärt dem Kleinen Prinzen die für ihn wichtigste Grundlage seiner Macht. Sie lautet: „Man muss von jedem fordern, was er leisten kann.“ Und weiter: „Die Autorität beruht vor allem auf der Vernunft. Wenn du deinem Volk befiehlst zu marschieren und sich ins Meer zu stürzen, wird es revoltieren. Ich habe das Recht, Gehorsam zu fordern, weil meine Befehle vernünftig sind.“ Seine Herrscherweisheit gebietet dem König daher, den Wunsch des Kleinen Prinzen, einen Sonnenuntergang zu sehen, auch erst dann zu erfüllen, „wenn die Bedingungen dafür günstig sind.“ Die Bedingungen für einen Sonnenuntergang sind – hier wie dort – günstig nur am Abend.

Nun haben wir die absolute Monarchie gottlob weit hinter uns gelassen. Ich denke jedoch, dass gerade die Demokratie nach einer durch vernünftige Entscheidungen legitimierten Autorität verlangt. Und was ist – in die demokratische Regierungsform übersetzt – die vom König befürchtete Revolte anderes als das Votum des Wählers? Versuchen die führenden Volksparteien also unvernünftige „Befehle“ gegenüber ihren „Untertanen“ durchzusetzen, dass diese ihnen ihre Stimme verweigern? In den Worten des Königs: Sind die Bedingungen günstig für die von CDU und SPD vorgeschlagene Politik?

 

Ich meine, sie sind es in einem zentralen Punkt nicht. Und dieser zentrale Punkt ist die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Steht im Zentrum beider politischen Konzepte doch das Sparen. Sparen heißt nicht ausgeben. Und wie können die Bedingungen hierfür günstig sein, wenn Alle bereits ihr Geld zusammenhalten? Der Staat, um seine Haushaltslöcher zu schließen, die Unternehmen, um ihre Kosten zu senken, die Beschäftigten, um ihren sinkenden Einkommen und den gleichzeitig steigenden Anforderungen an die private Vorsorge Rechnung zu tragen. Das ist der Versuch, die Sonne am Vormittag untergehen zu lassen. Denn die Ausgaben des Einen sind die Einnahmen des Anderen. Um bei dem Kleinen Prinzen zu bleiben, hier ähnelt die Politik eher dem Verhalten des Säufers, dem der Kleine Prinz im Rahmen seiner „Bildungsreise“ auf einem weiteren Planeten begegnet: Der Säufer trinkt, um zu vergessen, dass er sich schämt. Und er schämt sich, weil er trinkt. Die Politik spart, weil sie meint, es gehe uns schlecht. Und, weil es uns aufgrund ihrer Sparbemühungen anschließend noch schlechter geht als zuvor, das Haushaltsdefizit noch größer geworden ist, meint sie, noch mehr sparen zu müssen.

 

Der Wähler vermag dieser Tautologie anscheinend nicht länger zu folgen. Und weil er den Sinn dieses tautologischen Unterfangens nicht länger versteht, hat er die Partei gewählt, die dem am meisten widerspricht: die Linkspartei. Sie hat den größten Zuwachs an Wählerstimmen erhalten, fast 5 Prozent. Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarktpolitik und Soziale Gerechtigkeit waren laut Infratest-dimap dann auch die wahlentscheidenden Themen für die Wechselwähler.

 

Bliebe noch zu beantworten, warum die FDP mit fast zweieinhalb Prozent den zweithöchsten Stimmenzuwachs erzielen konnte. Was nützen bspw. niedrigere Steuern, wenn die Einkommen, die sie erhöhen, nicht ausgabewirksam werden? Ungläubig habe ich noch einmal im Kleinen Prinzen nachgelesen. Der vierte Planet, den der Kleine Prinz besucht, ist der des Geschäftsmannes: Dem Geschäftsmann reicht es, dass er die „Sterne“, die er sammelt, in die Bank legen kann. „Und das ist alles?“, fragt der Kleine Prinz ihn. „Das genügt.“, antwortet der Geschäftsmann.


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