Private Versicherungen rauben uns die Freiheit

::Buchtipp::


Die Abkehr von der öffentlichen Umlagefinanzierung und die Hinwendung zu privaten Versicherungen machen nicht frei, sie fesseln uns

Mit gehangen, mit gefangen

In seiner Oktober-Ausgabe kommt “Finanztest” zu einer nicht eben schmeichelhaften Bewertung privater Rentenversicherungen:

“Wer nicht damit rechnet, sehr alt zu werden, hat womöglich nichts von einer privaten Rentenversicherung. Bei den getesteten Angeboten muss ein Mann, dessen Rente mit 67 Jahren beginnt, je nach Tarif zwischen 15 und 17 Jahren Rente beziehen – nur um seine Beiträge wieder herauszubekommen. Erst danach kommt er ins Plus. Er ist dann schon mindestens 82 Jahre alt. Dieses Alter erreichen sehr viele Menschen gar nicht. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren von den 2009 gestorbenen Männern 22 Prozent jünger als 65 Jahre; 33 Prozent waren jünger als 70 Jahre. Eine private Rentenversicherung ist also auch eine Wette auf ein langes Leben.”

Grundsätzlich in Frage stellt das Blatt die private Rentenversicherung indes nicht. Die Rechenschiebereien von Finanztest basieren dabei – wie die durch ihn “geprüften” Versicherungen – auf spekulativen Annahmen über eine ferne, nicht vorhersehbare Zukunft. Eine ganz andere, grundsätzlichere Überlegung führt für die privaten Versicherungen zu einem vernichtenden Ergebnis. Und nichts ist schließlich grundsätzlicher als unser aller Alltag.

Ich stelle mir vor, es gibt nur eine Krankenversicherung und eine Rentenversicherung, und die liegt auch noch in öffentlicher Hand. Das privatwirtschaftliche Interesse, den Gewinn zu maximieren, ist bei diesen beiden Versicherungen damit außer Kraft gesetzt. Ziel ist, die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Diese Vorstellung hat etwas Befreiendes!

Ja aber, werden jetzt viele einwenden, hat man uns denn etwa nicht jahrelang gepredigt, dass unsere Freiheit davon abhängt, „eigenverantwortlich“ wählen zu können: zu „riestern“, sich für die private oder die gesetzliche Versicherung zu entscheiden, sich zusätzlich zur gesetzlichen Versicherung privat zu versichern? – Ja, hat „man“. Die Politiker vorneweg, die unsere gute alte Umlagefinanzierung zuerst in Frage gestellt haben und sie dann durch zig Anpassungsformeln zerstörten. Flankiert von einem politischen Werbefeldzug und entsprechenden Gesetzgebungen, die den Weg frei machten für private Versicherungen und Zusatzversicherungen. In Atem beraubendem Tempo wandelte sich der vormals am Gemeinwohl orientierte Gesundheits- und Rentenpolitiker zum profanen Versicherungskaufmann. Nach getaner Arbeit wurde und wird dies nicht selten belohnt durch einen lukrativen Wechsel vom Deutschen Bundestag in ein Unternehmen der Finanzindustrie.

Was aber hat der gemeine Bürger dadurch wirklich gewonnen? Zahlen wir unter dem Strich etwa weniger? Mit Sicherheit nicht. Denn natürlich müssen wir bei unseren Berechnungen die zusätzlich zu unseren gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträgen zu zahlenden Beiträge für Privatversicherungen berücksichtigen – sofern wir uns diese überhaupt leisten können.

Ein System der Angst und des Misstrauens

Vor allem aber gilt es die alltäglichen Folgen dieses Systems zu berücksichtigen: Die Zeit, die wir damit verbringen müssen, uns einen Überblick über einen Markt zu verschaffen, dessen Angebot für den Normalbürger, ja, selbst für viele selbst ernannte Experten, gar nicht überschaubar ist. Die Verträge, Vereinbarungen und Rechnungen, die wir jetzt unterschreiben und bei unseren Versicherungen einreichen müssen. Die damit verbundenen Belastungen, weniger die Portokosten, als  vielmehr die schwermütig machende Sorge: Wird das auch alles bezahlt werden, oder bleibt es doch an mir hängen? Werde ich mit dieser privaten Rentenversicherung meinen Lebensstandard im Alter sichern können? Musste diese Zahnbehandlung wirklich erfolgen, oder wurde sie nur ausgeführt, weil eben eine Zusatzversicherung da ist, die jetzt dafür zahlt? Hat sich mit der privaten Zusatzversicherung nicht längst die Logik durchgesetzt, dass wenn man schon für eine solche bezahlt, sich diese für einen auch „lohnen“, diese also nach Möglichkeit „löhnen“ muss. Wie aber soll solch ein System Vertrauen wecken, in dem man ständig Angst haben muss, über den Tisch gezogen zu werden?

Statt uns Freiheit zu bringen, haben uns die Versicherungskonzerne, ihre Lobbyisten und – hauptverantwortlich – die Regierenden in den vergangenen fünfzehn Jahren ein riesiges Gefängnis gezimmert; und mit jeder Entscheidung, die uns davon abhängiger macht, uns privat zu versichern, und die im Gegenzug gesetzliche Leistungen abbaut, wird eine weitere Mauer um uns herum gezogen. Ein Labyrinth, aus dem auszubrechen dem Einzelnen kaum noch möglich ist.

Wie wirkliche Freiheit aussehen könnte

Was hätten wir stattdessen für ein Zeitpensum zu unserer freien Verfügung, wenn wir uns um all das nicht kümmern müssten. Was wäre es für ein Gewinn an individueller Freiheit, wenn wir stattdessen wirklich eigenverantwortlich über diese hinzugewonnene – genauer: zurückgewonnene! – Zeit frei verfügen könnten, abgesichert durch ein öffentlich umlagefinanziertes Gesundheits- und Rentensystem. Eines, das allen gleichrangig, unabhängig von Einkommen und Vermögen, eine umfassende Versorgung zusichert, und das gerade die nicht so auf ihre Gesundheit Bedachten dazu anregt und ihnen Hilfestellung gibt, gesünder zu leben.

Eltern hätten wieder mehr Zeit für ihre Kinder und müssten sich noch dazu weniger um deren Gesundheit und die damit verbundenen Kosten sorgen. Studierende hätten mehr Zeit, eben um zu studieren. Rentner könnten ihren verdienten Ruhestand sorgenfrei genießen. Die Menschen allgemein könnten die Zeit, die sie jetzt faktisch damit verbringen müssen (das Gegenteil von Freiheit), um sich gesundheitlich und für das Alter einigermaßen abzusichern, für einen gesundheitsfördernden Spaziergang nutzen, für Sport, Kultur, Bildung, Weiterbildung. Kurzum: Die Menschen könnten selbstbestimmt sinnvollen, weiterführenden, persönlichen Interessen folgen, erfüllenden und damit gesundheitsförderlichen Beschäftigungen nachgehen. Welch ein Gewinn an Freiheit und Lebensqualität!

Nicht nur besser, auch billiger

Und: Der nun wirklich bürokratische Kropf der privaten Versicherungsbranche und Finanzindustrie würde auf ein dann wieder vom Markt und Wettbewerb diktiertes und nicht länger staatlich subventioniertes Maß zurecht geschrumpft. Welch zusätzlicher Effizienzgewinn! Die Kosten der Gesundheits- und Rentenversicherungen wären wahrscheinlich sogar rückläufig. Die dadurch freigesetzten Mitarbeiter könnten aufgrund der gewonnenen Einsparungen zu vernünftigen Gehältern in der öffentlichen Verwaltung sinnvoll, das heißt den Menschen und dem Gemeinwohl dienend, beschäftigt werden. Der Begriff Dienstleistungsgesellschaft würde gleichsam aufgewertet.

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Diesen Weg in die Freiheit hat uns die Politik des „Jeder-muss-für-sich-selbst-sorgen-und-vorsorgen“ gründlich verbaut.
Sie haben uns unsere Zeit gestohlen, die uns sonst zur Selbstverwirklichung zur Verfügung stünde. Wo ist die Partei, die uns aus diesem Gefängnis befreit, uns eine Alternative aufzeigt, uns einen Fluchtweg weist? Sie müsste dazu wohl erst einmal die Lobbyisten und andere allein von wirtschaftlichen Einzelinteressen geleitete Personen und Organisationen aus dem Politikbetrieb aussperren und die Versicherungskonzerne einmal wieder den „freien Wettbewerb“ schmecken lassen. Was ist daran eigentlich so schwer, fragt sich der normale Arbeitnehmer, mittelständische Unternehmer und noch nicht von Lobbyisten gekaufte Ministerialbeamte und Minister. Eine durchaus berechtigte Frage!


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