SPD – Keine Zukunft ohne Vergangenheit

Die SPD will für den Zustand Deutschlands und der Eurozone keine Verantwortung übernehmen – ein wenig erfolgversprechendes Rezept

Verhaltensmuster und rätselhafte Motive

Vom Mindestlohn über die Anpassung der Hartz-IV-Sätze, die Rente bis hin zur Eurokrise, die SPD versucht sich  durch beherzte Interviews, Pressemitteilungen und Papiere ins rechte Licht zu setzen.

Von ihrer Regierungsverantwortung, die sie von 1998 bis 2009 inne hatte, versucht sie sich dabei – bewusst oder unbewusst – mit allen Mitteln reinzuwaschen.

Das Erstaunliche dabei: Dieses Verhaltensmuster ist nicht nur bei den bis heute offen zur Agenda-Politik stehenden SPD-Politikern, wie Steinmeier, Steinbrück und Gabriel, zu beobachten, sondern auch bei Politikern, die sich der Parlamentarischen Linken und der Demokratischen Linken, jenen sich selbst als links begreifenden Gruppierungen innerhalb der SPD, zu beobachten. Während man den Agenda-Befürwortern noch ein durchaus rationales, machtpolitisches Kalkül unterstellen kann, stellt sich bei der SPD-Linken die Frage, was sie denn antreibt? Ist es ein nur noch psychologisch zur erklärender, unbewusster Verdrängungsprozess oder auch nur die blanke Angst des Einzelnen, nicht erneut einen Listenplatz für die nächste Bundestagswahl zu ergattern?

Kritische Stimmen sind in der Minderheit

Kritische Stimmen, die sich an einer Aufarbeitung versuchen, um endlich wieder befreit nach vorne zu schauen, sind jedenfalls rar – und ihre Beiträge werden von der eigenen Partei und Fraktion nicht als Diskussionsgrundlage genutzt. Im Januar veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Grundsatzartikel der ehemaligen SPD-Landesvorsitzenden aus Hessen, Andrea Ypsilanti, in dem sie von ihrer Partei eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik während der Regierungsverantwortung einforderte und begründete.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Europapolitiker Werner Schieder veröffentlichte im Mai dieses Jahres einen richtungsweisenden Aufsatz zur Bewältigung der Eurokrise, der trotz seiner Verbreitung über die viel gelesenen keinen Widerhall in der eigen Partei und Fraktion fand.

Anfang November meldete sich schließlich der Juso-Vorsitzende Sascha Vogt in der Financial Times Deutschland zu Wort und kritisierte unter der Überschrift “SPD braucht Programm statt Personality” das “Kandidatentheater” um die Kanzlerkandidatur Steinbrücks, der an der Partei vorbei versuche Fakten zu schaffen. Vogt verwies warnend darauf, dass es doch Steinbrück war, “der die Finanzmärkte vor Ausbruch der Krise im neoklassischen Glauben an deren Effizienz dereguliert hat. Und es war Steinbrück, der noch 2006 öffentlich bekundete, die Finanzmärkte seien nicht zu regulieren. Und es war Steinbrück, der zunächst ein Übergreifen der Krise von den USA nach Europa geleugnet hat und etwa in der Frage von Konjunkturpaketen erst dann reagiert hat, als de facto keine andere Entscheidung mehr möglich war.”

Das aber ist selbst für Parteibeobachter, geschweige denn für die breite Bevölkerung, eine kaum wahrnehmbare Minderheit. Ohne dass die Partei- und Fraktionsspitze und die Medien ihre Vorschläge öffentlich aufgreifen und in ihre Überlegungen und Berichterstattung einbeziehen, kann es ihnen nicht gelingen, sich Gehör zu verschaffen. Das aber ist weitgehend nicht der Fall. Man stelle dagegen das Nachrichtengewitter um die Kanzlerkandidatur Steinbrücks oder die Selbst-Inszenierung von Gabriel, Steinmeier und Steinbrück als neuer “Troika” auf der Bundespressekonferenz.

Manipulation statt Information

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Stattdessen steckt die Bundestagsfraktion der SPD Zeit und Geld in Informationsbroschüren, die keine sind, denn sie informieren nicht, sie manipulieren. Der Publizist und Mitherausgeber der NachDenkSeiten, selbst Mitglied der Demokratischen Linken in der SPD, Albrecht Müller, hat die daran Beteiligten jüngst als bezeichnet.

In der am 25. Oktober dieses Jahres veröffentlichten “Kompaktinfo” der Planungsgruppe in der SPD-Fraktion, die direkt unter Steinmeier arbeitet, heißt es einleitend unter dem Titel “Mit Augenmaß und Risikobewusstsein – SPD-Finanzmarktpolitik vor und in der Finanzmarktkrise” doch tatsächlich: “Die SPD hat noch in Regierungsverantwortung die Gefahren in den Blick genommen, vor dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers Ende September 2008.”

Der Journalist Harald Schumann hat dagegen bereits im September 2010 im Tagesspiegel nachgezeichnet, dass Steinbrück noch am 25. September 2008, zehn Tage nach der Lehman-Pleite, im Bundestag verkündete, das deutsche Bankensystem sei „im internationalen Vergleich relativ robust“, ein Bankenrettungsprogramm wie in den USA sei in Deutschland „nicht notwendig“. “Nur einen Tag später begannen die Verhandlungen für den 100-Milliarden-Freikauf der Münchner Hypo Real Estate (HRE)”, bemerkt Schumann in seinem “Kontrapunkt”.

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schrieb am 11. November 2008 in seiner Kolumne in der New York Times über Steinbrück: “Die Weltwirtschaft befindet sich in einem schreckenerregenden Sturzflug, das ist überall sichtbar. Und doch stemmt sich Herr Steinbrück fest gegen jede außerordentlichen fiskalpolitischen Maßnahmen und brandmarkt Gordon Brown des “krassen Keynesianismusses”. (“The world economy is in a terrifying nosedive, visible everywhere. Yet Mr. Steinbrueck is standing firm against any extraordinary fiscal measures, and denounces Gordon Brown for his “crass Keynesianism.”)

Aufgrund der sturen und passiven Haltung Steinbrücks warf Krugman den Deutschen “Holzköpfigkeit” (boneheadedness) vor und attestierte Steinbrück, auf die strategische Rolle Deutschlands als mit Abstand größter Volkswirtschaft Europas verweisend, einen “beachtlichen Schaden anzurichten” (“Mr. Steinbrueck is therefore doing a remarkable amount of damage.”).

Bis heute sieht Steinbrück den Euro nicht in der Krise, sondern lediglich eine Krise von Mitgliedstaaten des Euro. So zuletzt am 13. November 2011 in einem Interview mit dem Tagespiegel am Sonntag. Ausgerechnet Steinbrück, unter dessen tatkräftiger Mitwirkung der deutsche Finanzmarkt dereguliert wurde wie nie zuvor, wirft der FDP vor, sie habe “die Monstranz der Deregulierung zum Exzess gemacht.” Wenn man der Fraktionsseite der SPD noch Glauben schenken darf, stimmt ein führendes Mitglied der Parlamentarischen Linken in der SPD, Carsten Sieling, in dieses Lied mit ein und spricht die SPD von ihrer damaligen Regierungsverantwortung frei: “Der Finanzpolitiker Carsten Sieling erinnerte in seinem Redebeitrag daran, dass es in Deutschland nur deshalb so wenige Hedge Fonds (rund zehn) gebe, weil sie unter Hans Eichel und Peer Steinbrück streng reguliert wurden. Mehr war unter den damaligen politischen Verhältnissen nicht möglich. Sieling stellte zudem klar, dass es Peer Steinbrück als Finanzminister war, der im September 2008 zum Beispiel die Leerverkäufe verbat.”

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Es war aber die , die unter Schröder die Hedgefonds erst eingeladen und steuerfrei gestellt und Leerverkäufe erlaubt hat. Der Journalist Tom Strohschneider zitiert unter der Überschrift “” aus einer Bundestagsrede des damaligen SPD-Finanzministers Eichel im März 2003: “Hedgefonds sollen gegenüber herkömmlichen Investmentfonds nicht mehr diskriminiert werden´, hatte der SPD-Mann seinerzeit im Bundestag erklärt, ´private Anleger werden von höheren Renditen der Hedgefonds profitieren können.” 2004 trat schließlich das Investmentmodernisierungsgesetz in Kraft, durch das erstmals Hedgefonds in Deutschland zugelassen wurden.

Die SPD spielt Opposition

Das alles ficht die “Macher” um Fraktionschef Steinmeier herum nicht an. Und ihn selbst auch nicht. Die SPD spielt Opposition. Und sie lügt sich dabei kräftig in die eigene Tasche und täuscht – bewusst oder unbewusst – die Öffentlichkeit. Das alles ist aus der Perspektive des seine Macht erhalten wollenden Steinmeiers noch nachvollziehbar. Denn wer sich wie Steinmeier nach der historischen Wahlschlappe von 2009 wie selbstverständlich um das Amt des Fraktions- und des Parteichefs bewirbt, von dem ist keine Einsicht zu erwarten.

Geradezu unheimlich wird der Umgang mit der eigenen Vergangenheit aber, wenn SPD-Politiker, die sich selbst der SPD-Linken zugehörig fühlen, ähnliche Kapriolen schlagen. Jüngst ist auf den Internetseiten der Parlamentarischen Linken und der Demokratischen Linken ein Papier des SPD-Bundestagsabgeordneten Lothar Binding, Mitglied im Finanz- und im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags, veröffentlicht worden. Der Titel: “… und ganz plötzlich hatten wir eine Krise…Hintergründe und Ursachen der Finanzkrise(n) Lösungsansätze der SPD Bundestagsfraktion”.

Der informierte Leser glaubt bei der Lektüre seinen Augen nicht zu trauen – der uninformierte Leser aber wird getäuscht. So heißt es darin unter anderem:

“Die weltweite liberale und neoliberale Ablehnung einer internationalen Regulierung und
Aufsicht hat zu schrankenloser Freiheit Weniger geführt – mit katastrophalen Folgen für die internationalen Finanzmärkte und die gesamte Weltwirtschaft. Wer – wie die ehemaligen sozialdemokratischen Finanzminister Hans Eichel und Peer Steinbrück – eine
bessere internationale Regulierung vorgeschlagen hatte, wurde sprichwörtlich ausgelacht – auch unter heftigem Beifall der FDP und Teilen der CDU.”

Es war aber die SPD, die in Deutschland die Finanzmärkte in noch nie dagewesenem Ausmaß dereguliert hat. “Aus Sicht des Bundesfinanzministeriums” und damit in Verantwortung des damaligen Finanzministers Steinbrück schrieb dessen Adlatus Asmussen, der heute in der Europäischen Zentralbank sitzt, 2006 ein Plädoyer für die Erleichterung und Ausweitung des Verbriefungsgeschäftes in der ““. Diese Verbriefungen wurden im Verlauf der Finanzkrise als Schrottpapiere berühmt – und berüchtigt.

Bis zum bitteren Ende haben SPD wie CDU/CSU und FDP und, als sie noch regierten, auch die GRÜNEN, ihre Politik allzu einseitig auf den “Finanzplatz Deutschland” ausgerichtet.

Da wirkt es schon befremdlich, wenn der SPD-Abgeordnete Binding in seinem Pamphlet die SPD freispricht und der “Politik im Allgemeinen” gleich mit Absolution erteilt, dann aber der FDP und Teilen der CDU vorwirft, dass “ihre” Marktgläubigkeit in die Irre geführt habe und der Wirtschaft die Schuld in die Schuhe schiebt:

“Und man kann sich vielleicht auch fragen, warum ´die Politik´ im Allgemeinen oder die
SPD im Besonderen in den Jahren ihrer Regierungsbeteiligung nicht die Schattenseiten
der internationalen Finanzwelt erkannt und beseitigt hat – aber muss man diese Frage
nicht mit umso größerer Berechtigung auch all jenen unvorsichtigen und renditehungrigen Marktteilnehmern, den Vertretern marktradikaler und neoliberaler Positionen in Parlamenten und Regierungen, wissenschaftlichen Politikberatern oder Wirtschaftsredakteuren mancher Zeitungen stellen, die jede unserer Überlegungen zu staatlicher Intervention in das ´freie Spiel der Märkte´ als Angriff auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung verurteilt haben? Dieser neoliberale Geist der Deregulierung, Entstaatlichung und Renditeorientierung ist sicherlich ein Grund dafür, dass wir in der Krise Finanzmarktstabilisierungsgesetze und Konjunkturprogramme brauchten. Viel zu lange haben FDP und Teile der CDU verzweifelt davon abzulenken versucht, dass ihre Marktgläubigkeit in die Irre geführt hat.”

Dieser Kanon ließe sich noch eine ganze Weile auch für andere wichtige Politikbereiche fortsetzen. So ist es natürlich, wenn überhaupt, wiederum nur die halbe Wahrheit, wenn es anlässlich eines kritischen Berichts der OECD zum deutschen Rentensystem in einer Pressemitteilung heißt: “Wachsende Altersarmut hausgemacht! Ottmar Schreiner fordert eine Korrektur der Rentenanpassungsformel!” Letztere und damit auch die wachsende Altersarmut sind aber nun einmal SPD-gemacht, die ja seinerzeit das „Haus“ bestellt hat. Nicht umsonst sind mit der Rentenpolitik Namen von SPD-Politikern verknüpft, wie etwa beim so genannten Riester-Faktor, der 2001 mit dem Gesetz zur “Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens” eingeführt wurde.

Ein Blick in die außenpolitische Darstellung würde weitere Leichen im Keller bzw. Widersprüche der SPD sichtbar machen.

Ein schwacher Trost für die Wähler

Man kann es drehen und wenden, wie man möchte: Es ist kaum vorstellbar, dass diese “Strategie” der SPD aufgeht und sie damit Wählerinnen und Wähler dauerhaft bei der Stange hält oder gar zurückgewinnt. So konnte die SPD, anders als von ihrem Spitzenpersonal selbst vielleicht wahrgenommen oder interpretiert, nicht wirklich von der Schwäche, dem inhaltlichen Vakuum in wichtigen Politikfeldern und dem insgesamt doch desolaten Zustand der Regierungskoalition profitieren. Die Mitgliederzahl der SPD ist im Mai des Jahres das erste Mal unter die Grenze von 500 Tausend gefallen. Wahlerfolge wie in Hamburg waren nüchtern betrachtet ein lokales Phänomen, eng mit dem Zustand der CDU vor Ort verknüpft. In Berlin war die SPD, gemessen am Verlust absoluter Wählerstimmen, in Wahrheit der große Wahlverlierer.

Weil jene, man muss schon sagen dümmlich verwegene Ausrichtung bis auf Ausnahmen dennoch die gesamte Sozialdemokratie zu beherrschen scheint, muss der an wirklichen Alternativen interessierte, sicherlich keineswegs nur traditionale sozialdemokratische Wähler wohl bis auf weiteres Trost in Sätzen wie diesen suchen:

“Für eine Renaissance der Sozialdemokratie bedarf es deshalb eines kritisch aufgeklärten Diskurses und Handlungsmut, der mehr als nur Reparaturen des Bestehenden will und darin einer praktischen Utopie folgt. Erste Voraussetzung bleibt die Evaluierung der eigenen ´Reformen´, zu der sich dann auch die Grünen verhalten müssen, die daran ja beteiligt waren. So ist die wie eine Monstranz vorgetragene Behauptung, Hartz IV habe Arbeitsplätze geschaffen, weder empirisch belegt, noch ein Trost für die EmpfängerInnen von Transferleistungen. Warum also nicht eine Debatte um die Bedingungen einer gerechten, nicht auf Erwerbsarbeit verengten Arbeitszeitverkürzung?” (Andrea Ypsilanti, Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun, Januar 2011)

Jene Einsichten scheinen aber selbst unter SPD-Linken zur Zeit nicht mehrheitsfähig. So ist es bis auf weiteres nicht zu erwarten, dass ihnen eine praktische Politik folgt, die selbstverständlich auch in der Opposition das Maß aller Dinge ist.

Es ist nicht mehr viel Zeit bis zum Bundesparteitag Anfang Dezember. Und es ist zu befürchten, dass es am Ende wieder heißt: „…heute gilt das nicht mehr, heute muss man zäh, Schritt für Schritt, für Schritt für Schritt…, sagt der alte ewige Sozialdemokrat und spricht und spricht und spricht, bloß ändern, das will er nicht.“ So der gerade verstorbene Franz Josef Degenhardt in seinem Lied „Der alte Sozialdemokrat“.


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