Die Wenigen und die Vielen
Plötzlich soll der Démos (das Volk) entscheiden – und es bricht Panik aus. Wenn hingegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas und der ganzen industrialisierten Welt dem Treiben der Finanzmärkte und zwei, drei Rating-Agenturen dabei zusehen, wie sie den Daumen über ganze Gesellschaften und Volkswirtschaften heben oder senken, herrscht im buchstäblichen Sinne Ruhe: Das Volk hält still und die “Demokraten” herrschen soweit möglich hinter verschlossenen Türen. Demokraten?
“Es bleibt jedoch festzuhalten”, schreibt der Historiker Luciano Canfora in seinem Werk, Eine kurze Geschichte der Demokratie, Von Athen bis zur EU, “dass die athenische Demokratie nicht die ´Herrschaft des Volkes´ bedeutete, sondern die Übernahme der Führungsrolle innerhalb der ´Volksherrschaft´ durch den nicht kleinen Teil der ´Reichen´ und ´Herren´, die dieses System akzeptierten.” Canfora bezieht sich auf die Zeit des 5. Jahrhunderts vor Christi. Erst “mit der Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen erhielt die Demokratie ein neues, dynamisches und explosives Element”, führt Canfora weiter aus, und: “Angesichts der Tatsache, dass die Besitzlosen nunmehr politische Macht besaßen, kam es innerhalb der Führungselite – derjenigen, die aufgrund ihres höheren Rangs über eine politische Bildung verfügten, die Redekunst beherrschten und damit für die Führung prädestiniert waren – zu einer Spaltung…Man war getragen von der Überzeugung, die allgemeinen Interessen vertreten und die politische Bühne beherrschen zu müssen, um das Gemeinwesen optimal zu führen.” Diejenigen, die dieses System ablehnten, waren die Olígoi (die Oligarchen, die Wenigen). Wie aktuell, dieser historische Rückblick.
Von der Gegenwart eingeholt
Die herrschenden Eliten, allen voran die deutsche und französische Regierung, der IWF und die an den Entscheidungen der vergangenen Monate beteiligten nationalen und europäischen Institutionen – die Wenigen – meinten über “die Vielen”, den Démos, das Volk, beliebig befinden zu können. Völlig abgehobene Sparprogramme wurden ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt. Und die Verluste waren hoch: Das griechische Wirtschaftswachstum brach dramatisch ein, Arbeitslosigkeit und soziale Not explodierten, die Staatsdefizite und die Staatsschuld stiegen daraufhin weiter an. Nach dem Motto, wer nicht hören will, muss fühlen, wurden die Daumenschrauben daraufhin noch einmal angezogen. Alles begleitet von einem weiteren, wortgewalt(äti)igen Mitspieler, der sich seit langem – losgelöst von der Eurokrise – besonders den Wenigen verpflichtet fühlt: die etablierten Medien. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die vorherrschenden Wirtschaftswissenschaften, die deutschen im Besonderen. Auch sie ein ideologisches Sprachrohr für die Wenigen.
Plötzlich aber nimmt die Politik Fahrt auf, Merkel reist überstürzt nach Cannes, um mit ihrem mächtigen Bruder im Geiste, Sarkozy, zu beraten. Droht diesen im oben definierten Sinne vormodernen Demokraten doch tatsächlich das Volk in ihr Drehbuch zu pfuschen. Es kann doch wohl nicht sein, was nicht sein darf. Die Mehrheit der einschlägigen Medien zeigt sich ebenfalls empört. Und hat etwa nicht grad einer unserer führenden Vertreter der Wirtschaftsforschung eine eindeutige Ansage gemacht: “Leider muss es wohl so sein, dass Griechenland aus der Krise heraus schrumpfen muss.” So Klaus Abberger vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung abschließend auf der Pressekonferenz zum Herbstgutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute im Oktober.
Gar nicht auszudenken, wenn “die Vielen” plötzlich einmal aktiv werden und mehr soziale Rechte und ökonomische Vernunft einzufordern beginnen.
Auch die Opposition steht ohne Kleider da
Doch nicht nur die Politiker und Politikerinnen der Regierungsparteien sollten aufhorchen, auch die der Opposition: Wo haben beispielsweise SPD und GRÜNE lautstark aufbegehrt gegen die mit den Sparprogrammen einhergehende, vorhersehbare soziale Ungerechtigkeit und gegen die ebenso vorhersehbaren volkswirtschaftlichen Folgen? Außer ein paar Versatzstücken, die in vielen Fällen bereits innerhalb weniger Tage wieder in Frage gestellt wurden, hat auch die Opposition nichts vorzuweisen.
Und: In der Zeit seit Entstehung der Eurozone, ja, bereits in den Jahren davor, hat sich auch die deutsche Politik immer weiter von “den Vielen” entfernt. Das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht dagewesene Ausmaß der Einkommens- und Vermögenskonzentration, prekärer Beschäftigung und allgemeiner sozialer Unsicherheit ist hierfür ein erschreckendes Indiz. Schlimmer noch: Vieles spricht dafür, dass eben jene Politik mit für die Entstehung der Eurokrise verantwortlich zeichnet.
Die schwachen Reaktionen der Opposition auf die jetzige Entscheidung des griechischen Ministerpräsidenten, das Volk über die Entwicklung Griechenlands entscheiden zu lassen, ihre Angriffe auf Merkel, sind vor diesem Hintergrund mehr als billig, selbstgerecht – und ohne tiefere Einsicht. Eine Alternative zeigen sie nicht auf. Dafür müssten SPD und GRÜNE vielleicht ähnlich mutige Kehrtwenden vollziehen wie Merkel in der Atompolitik und beim Mindestlohn – aus welchen taktischen und machtpolitischen Beweggründen Merkel diese auch immer vollzogen haben mag. Davon aber ist nichts zu hören. Die Opposition begnügt sich mit Verbalattacken auf die Regierung und im Drehen von Stellschrauben. “Die Vielen” werden sie damit nicht erreichen und noch weniger überzeugen.
Denk ich an Deutschland…
Ob mutige Entscheidung oder Verzweiflungstat, ob aus ehrlichem Demokratieverständnis geboren oder aus taktischem Kalkül: Die Entscheidung Papandreous wirft auch ein schlechtes Licht auf die politische Landschaft in Deutschland. Eine politische Mehrheit, die sich wieder glaubwürdig dem Démos zuwendet, eine die den Démos nicht wie den Dämon scheut, sondern sich “der Vielen” annimmt, “getragen von der Überzeugung, die allgemeinen Interessen vertreten und die politische Bühne zu beherrschen, um das Gemeinwesen optimal zu führen”, wie Canfora schreibt, wäre die demokratische Antwort auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Europa. Umso länger die Politik diese Antwort schuldig bleibt, desto anhaltender gefährdet sie die Demokratie.
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