Beim ökonomischen Tenor, den Gabriel heute im Feuilleton der FAZ anstimmt, fragt man sich, warum er nicht gleich einen gemeinsamen Gastbeitrag mit der Kanzlerin verfasst hat. Vielleicht, weil ihm die Kanzlerin und ihre Koalition beim Sparen noch nicht weit genug gehen. Wahrscheinlich sogar, denn diese Position hat der SPD-Chef schon häufig eingenommen.
Gabriel ist nicht gut informiert. Vielleicht, weil er Die Zeit liest, die sich bei der Analyse der Eurokrise und nicht nur der Eurokrise nun schon seit geraumer Zeit nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Gabriel bezieht sich einleitend auf den Feuilleton-Redakteur der Wochenzeitung, Thomas Assheuer, der vielleicht zurecht die Frage gestellt hat, wo denn die Intellektuellen waren “als Europa fast in Trümmern lag.” Vielleicht hat er aber auch nicht genau genug hingeschaut. Möglich.
Hätte Assheuer aber gefragt, wo denn die Politiker waren, dann, ja dann würde er – auch Gabriel sei Dank – heute noch ohne jeden Zweifel Recht behalten. Gabriels Fähigkeit zur Selbstreflexion ist, das hat nicht zu letzt der gerade erst zurückliegende Bundesparteitag der SPD noch einmal erwiesen, nicht besonders ausgeprägt. Und so greift er die wenigen Intellektuellen auf, die Assheuer bei seiner Kritik noch einmal hat davon kommen lassen: Jürgen Habermas, Klaus Harpprecht, Ulrich Beck und Hans Magnus Enzensberger: “Außer bei diesen Großmeistern entzündet das Europa von heute kein Feuer mehr in den Herzen deutscher Geistesarbeiter”, so Gabriel wehleidig.
Schon da irrt er gewaltig. Er hätte sich nur in seinem Wirtschaftspolitischen Rat umschauen müssen, und schon wäre er auf einen Ökonomen wie Heiner Flassbeck gestoßen. Das bequeme und gedankenlose Aufschauen zu unbestritten großen Universalgelehrten wie Habermas – der allerdings in ökonomischen Fragen nun wirklich nicht der allererste Ratgeber ist – ist darüber hinaus ja nun noch kein Ausdruck wirklicher Wertschätzung. Hat Gabriel unter den Regierungen Schröder und Merkel doch mit für ein Bildungssystem gesorgt, das für das Heranwachsen neuer Universalgelehrter denkbar ungeeignet ist. Man denke nur an die Bachelorstudiengänge und deren enge Lernformen, die unter
Studierenden unter dem Stichwort Bulimie-Lernen durchaus treffend intellektuell erfasst wurden: den Stoff schnell in sich hinein fressen und zur Prüfung wieder auskotzen, dass am Ende nur noch Leere und nicht Lehre übrig bleibt. Ein Intellektueller ist “jemand mit akademischer Ausbildung, der in geistig, schöpferischer, kritischer Weise Themen problematisiert und sich mit ihnen auseinandersetzt.” Es lohnt sich immer wieder die Begriffe auf ihre grundsätzliche Bedeutung zurückzuführen. Auch in diesem Fall, denn genau hieran mangelt es nicht zuletzt Gabriel.
Es mangelt Gabriel aber nicht nur am Willen oder der Fähigkeit sich eigenständig mit dem Problem der Eurokrise auseinanderzusetzen, es mangelt ihm auch an Aufrichtigkeit. Für letzteres ist nicht nur der sich unmittelbar an seine oben zitierten, einleitenden Ausführungen anschließende Satz ein Indiz: “Vermutlich liegt das daran, dass Europa vor geraumer Zeit in die Hände von Händlern, Ökonomen und Finanzanalysten geraten ist. Das erklärt, warum bis heute die Sehnsucht nach einer europäischen Erzählung ungestillt ist.”
Das erklärt mit Verlaub gar nichts. Wie, hätte sich Gabriel doch fragen müssen, konnte das denn passieren? Doch wohl nur, weil die Gesetzgebung den Händlern, Ökonomen und Finanzanalysten das erlaubte. Und schon wäre er in der schönen neuen Welt der seit Schröder verhunzten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angekommen, die denke ich jedem außerhalb der Partei- und Fraktionsführung der SPD mittlerweile in all ihren Auswüchsen bekannt ist. Falls dies nicht der Fall sein sollte, einfach mal bei den “Geistesarbeitern” der vorbeischauen oder auch auf dieser Seite etwas blättern. Empfehlenswert in dieser Hinsicht auch die gerade gestern erschienenen und auf dieser Seite ausführlich besprochenen “Deutschen Zustände” zu lesen – deren Verfassern hat Die Zeit übrigens 2007 bereits die Zusammenarbeit aufgekündigt, weil die Berichterstattung der darin publizierenden Intellektuellen der Wochenzeitung zu kritisch war (sic!).
Gleich darauf verliert und verirrt sich Gabriel weiter in Sprechblasen wie diesen: Erzählung, Umbruchzeiten, kulturelle Zeitenwende.
Wer keinen Inhalt zu entwickeln hat, muss dann vielleichtg so wie Gabriel formulieren:
“Wer Europa neu denken und den europäischen Gründungsgedanken neu beleben will, der muss zuerst auch politische und kulturelle Attitüden und Mentalitäten verändern. Nur so wird es möglich sein, die real existierende europäische Zuschauerdemokratie in eine partizipative Verantwortungsgemeinschaft von selbstbewussten und selbstbestimmten Europäern zu verwandeln.”
Was Gabriel nicht so alles verändern will – bevor er sich an die Lösung der Eurokrise macht. Vielleicht ist letztere auch einfach zu profan. Und das ist sie in der Tat für Gabriel. Für ihn – wie für Merkel, Schäuble, Rösler, Steinmeier, Steinbrück – ist die Eurokrise nämlich vor allem eine Schuldenkrise. Da liegt es nahe, dass Gabriel sich zuallererst auf den Bundesbankpräsidenten Jens Weidman beruft, um eine “gemeinsame Strategie des Schuldenabbaus, der Sanierung der Staatshaushalte und der Investition in die Wettbewerbsfähigkeit” zu finden. Und zwar in dieser Reihenfolge. Das nennt Gabriel dann “Fiskalunion” und scheut sich nicht, ein so geartetes ökonomisches Schmalspurprojekt mit der Entstehung der Bundesrepublik 1949 zu vergleichen.
An der EU-Politik der Kanzlerin hat Gabriel dann konsequenterweise nichts dringlicher zu kritisieren als, man glaubt es kaum: mangelnde Härte. Die von der Kanzlerin durchgeboxten Schuldenbremsen und die mit ihr verknüpften Sanktionsmechanismen gehen dem SPD-Parteichef immer noch nicht weit genug:
“Nationale Schuldenbremsen wurden zwar verabredet, und wer dagegen verstößt, soll Sanktionen ausgesetzt werden. Die allerdings kann eine Mehrheit der Mitgliedstaaten auch in Zukunft stoppen, wenn sie die Konsequenzen fürchten.”
Gabriel sind die bestehenden Maastricht-Kriterien und die von der Kanzlerin dirigierten Verschärfungen tatsächlich immer noch zu lasch. Gabriel hat Berater wie Heiner Flassbeck, Peter Bofinger und Gustav Horn in seinem Wirtschaftspolitischen Rat und drückt doch aus, dass er sich nicht einmal im Ansatz um das Verstehen der ökonomischen Zwänge, die allein die bestehenden Maastricht-Kriterien mit sich bringen, bemüht hat. Das ist wirklich erschütternd – wenn auch leider nicht überraschend, hat man Gabriels Aussagen erst einmal über einen hinreichenden Zeitraum verfolgt.
Zu diesem Dilettantismus gesellt sich immer wieder – und das ist mindestens genauso quälerisch – die mangelnde politische Aufrichtigkeit. Gabriel: “Weil Deutschland zwei Jahre lang gezaudert und gezögert hatte, fehlte zum Verhandeln echter europäischer Lösungen am Ende die Zeit.” Gabriel sollte noch einmal auf die Zeit vor und während des Ausbruchs der Finanzkrise zurückblicken bis hin zur Bankenrettung unter schwarz-roter Regierungsführung, dann müsste ihm sein Satz eigentlich im Halse stecken bleiben. Schlimmer aber noch: Gabriel hat ja bis heute selbst kein schlüssiges Rezept zur Bewältigung der Krise. Sein Fokus auf einen “europäischen Schuldentilgungsfonds” bedeutet doch auch nur das Kurieren am Symptom. Das lässt darauf schließen, dass Gabriel bis heute auch noch nicht das gleichermaßen intellektuel anspruchsvolle wie allgemeinverständlich formulierte seines Partei- und Fraktionskollegen Werner Schieder gelesen hat. Das alles ist angesichts der realen Bedrohung der Eurozone ein unglaublicher Vorgang, den sich der SPD-Parteichef und seine Entourage hier leisten.
Wo sind eigentlich die Gewerkschaften? Eingebettet? Wie wohl einmal die Historiker auf diese Wochen und Monate zurückblicken werden. Gut wird die Sozialdemokratie dabei nicht wegkommen.
Gabriel wirft der Regierung in Europa-Fragen völlige Orientierungslosigkeit vor und steht ihr in diesem und nicht nur in diesem Punkt doch in nichts nach. Gabriels politischer Opportunismus ist für einen auch nur einigermaßen aufgeklärten Menschen kaum zu ertragen: “Natürlich sind Schritte zu einer echten politischen Integration als Alternative zu dieser Als-ob-Politik unendlich mühselig und brauchen Zeit. Wir hätten schon die letzten zwei Jahre dafür nutzen müssen.” Die wesentliche Ursache für die Eurokrise, die von allen außerhalb Deutschlands anerkannt wird, ist die über die vergangenen zehn Jahre aufgegangene Schere in der Wettbewerbsfähigkeit. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Lohnstückkostenentwicklung in Deutschland. Die ihr zugrundeliegende deutsche Lohnentwicklung aber ist maßgeblich durch die Agenda 2010 und andere Gesetzgebungen, vor allem unter der von 1998 bis 2005 SPD-geführten und dann von ihr bis 2009 mitgetragenen und maßgeblich auch mitbestimmten rot-schwarzen Koalition ins Hintertreffen geraten. Das aber will Gabriel einfach nicht wahrhaben. Es ist zum Verzweifeln. Und die Situation der Eurozone ist verzweifelt. Sie ist es auch deswegen, weil Deutschland keine Opposition hat, die in der Lage wäre, ökonomische Alternativen aufzuzeigen und entsprechend Druck auf die Regierung auszuüben. Dieser verzweifelte und gleichzeitig hilflose Zustand kann gar nicht genug dramatisiert werden.
Noch einmal zurück zur engeren Ökonomie. Gabriel schreibt: “Denn im Kern geht es eben nicht um eine reine Finanzierungskrise. Eine solche könnte man lösen, wenn man die Staatsausgaben nur hinlänglich kürzte und ausreichend Bürgschaften für die verbleibenden Staatskredite ausgäbe.” Natürlich geht es nicht um eine reine Finanzierungskrise. Aber auch die wäre nicht wie hier von Gabriel aufgezeigt zu lösen – im Gegenteil. Und: Mit seinem Fokus auf den Schuldenabbau, unternimmt Gabriel nichts anderes, als eben kräftig an einer Finanzierungskrise mitzuwirken. Zwar spricht Gabriel sich schließlich für Eurobonds aus. Aber das ist vor dem aufgezeigten Hintergrund fast völlig belanglos. Noch bedeutungsloser wird es, führt man sich Gabriels anschließende Sätze zu Gemüte: “Statt selbst die staatliche Kreditaufnahme zu reduzieren, wird sie ausgerechnet im Schulmeisterland Deutschland erhöht. Wenn die einmalig günstige Zinssituation in Deutschland nicht dazu genutzt wird, die eigenen Staatsschulden zu senken, sondern stattdessen zu einem Zeitpunkt sehr guten Wirtschaftswachstums, sprudelnder Steuereinnahmen und extrem niedriger Zinsen die Neuverschuldung in den Jahren 2012 und 2013 noch erhöht werden soll, muss das zu Empörung bei denjenigen führen, denen gerade wir pädagogische Anleitungen zum Abbau ihrer Staatsverschuldung geben wollen.”
Das ist nun wirklich irre! Ob Bofinger, Horn und Flassbeck schon mit ihm geredet haben? Oder kommen sie wie ich – nach langer langer Auseinandersetzung mit den Positionen und der Entwicklung Gabriels – zum Schluss, dass sie es hier mit einem ökonomisch hoffnungslosen Fall zu tun haben.
Den Rest des Beitrags kann man sich aufgrund des bis hierher aufgezeigtem getrost schenken. Nur der letze Satz Gabriels sei hier noch herausgegriffen: “Die Zukunft unseres Kontinents ist zu wichtig, um sie auf Börsen- und Wechselkurse zu reduzieren.” Das ist wahr. Wenn man aber nicht einmal diese beiden und die sie bestimmenden ökonomischen Zusammenhänge zu begreifen versucht, dann hat man die Zukunft schon von vornherein verspielt.
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