Der nächste bitte
Auf diesen Aufruf ins Wartezimmer des behandelnden Arztes warten die Patienten am dringlichsten, denen es am schlechtesten geht. Aber auch die nicht ganz so angeschlagenen verzichten ebenso gern auf lange Wartezeiten.
Das Wartezimmer der Eurozone ist voll mit Patienten. Alle, auch Deutschland, lahmen. Die Wartezeit erscheint unendlich lang. Wie oft sind sie jetzt schon behandelt worden. Noch jedes Mal bekamen sie eine höhere Dosis an Medikamenten verabreicht. Strenge Diäten vor allem. Und doch hat sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert. Jeder normale Patient hätte längst die Geduld mit solch hilf- und erfolglosen Ärzten verloren. Und wenn nicht sie selbst, dann wären doch die Krankenkassen, die Beitragszahler und nicht zuletzt die Politik auf die Barrikaden gestiegen, angesichts der Kostenexplosion und der damit verbundenen Defizite.
Die Länder der Eurozone aber üben sich in Geduld. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen, schon gar nicht die Oberärzte Merkel und Sarkozy. Unbeirrt halten sie an ihrer Behandlungsmethode fest, obwohl die ersten Patienten längst dahin siechen ohne Aussicht auf Genesung.
Stattdessen wird es bald wieder heißen: Der nächste bitte. Der nächste Krisengipfel.
Deutschland und Frankreich könnten in der Tat Lehrmeister sein – allerdings in ganz anderer Hinsicht als sie es gerade praktizieren
Das bisher verabreichte Rezept dürfte mittlerweile jedem geläufig sein. Die staatlichen Ausgaben kürzen, Löhne und Sozialleistungen senken und öffentliches Eigentum verkaufen, um die Staatseinnahmen zu erhöhen. Das Ziel: Die Haushaltsdefizite und die Staatsschulden senken, denn sie sind nun einmal die Krankheit, die die behandelnden Ärzte diagnostiziert haben.
Dass dieses Rezept bisher keine Heilung brachte, sondern alles nur verschlimmerte, beruht auch auf folgendem, eigentlich einfachem Sachverhalt: Deutschland wehrt sich mit Händen und Füßen gegen gemeinsame Staatsanleihen – Eurobonds –, weil es meint, dass hierüber seine Zinslast steigen und damit auch der weitere Schuldenabbau gefährdet würde. Das aber ist gar nicht das entscheidende Kriterium. Der Grad der Zinsbelastung und die Höhe des Schuldenstandes stehen und fallen nämlich mit dem Wirtschaftswachstum, aus dem heraus die Zinsen ja auch bezahlt werden müssen. Und was diesen Zusammenhang anbelangt, könnten Deutschland und auch Frankreich nun fürwahr Lehrmeister für die Eurozone sein. Dazu müssten sie sich nur einmal die Entwicklung ihres Wirtschaftswachstums, ihrer Zinsen für langfristige Staatsanleihen und ihres Schuldenstands anschauen.
Und siehe da: Nicht die Höhe des Wirtschaftswachstum ist allein entscheidend, sondern dass das Wachstum über den Zinsen liegt.
Vor dem Ausbruch der Finanzkrise 2006/2007 konnte Deutschland – trotz steigender Zinsen – seine Schuldenstandsquote reduzieren. Die Schulden wachsen mit dem Zins, das Einkommen wächst mir der Wachstumsrate. Soll der Schuldenstand gesenkt werden, muss also die Wachstumsrate über dem Zins liegen. 2006 und 2007 lag das nominale Wirtschaftswachstum über den nominalen Zinsen. Dass der Schuldenstand dennoch das Maastricht-Kriterium von 60 Prozent deutlich überschritt, liegt schlichtweg daran, dass allein dessen Einhaltung ein nominales Wirtschaftswachstum von mindestens fünf Prozent zwingend voraussetzt, sollen Defizit- und Schuldenstandsquote nicht steigen.
2008 und 2009 halfen jedoch selbst sinkende Zinsen nicht, den Schuldenstand abzubauen. Er stieg im Gegenteil kräftig, weil das Wirtschaftswachstum weit unter das Niveau der Zinsen einbrach. Hinzu kam natürlich die teure Bankenrettung. 2010 kehrte sich diese Entwicklung aber bereits wieder um. Der Schuldenstand begann erneut zu sinken. Diese Entwicklung dürfte sich allenfalls 2011 noch fortsetzen. Aufgrund des spätestens im folgenden Jahr wieder einbrechenden Wirtschaftswachstums und möglicherweise auch steigender Zinsen für deutsche Staatsanleihen, wird sich der Verlauf dann aber 2012 voraussichtlich wieder umkehren. Das aber ist Spekulation. Entscheidend ist der Zusammenhang.
Und den bestätigt auch der zweite strenge Zuchtmeister der Eurozone: Frankreich. Auch Frankreich könnte wie Deutschland Lehrmeister sein. Denn auch in Frankreich steigt die Schuldenlast umso kräftiger, je schwächer das Wachstum gegenüber den Zinsen ausfällt.
Nur eine rosige Gegenwart garantiert auch eine rosige Zukunft
Und es ist nicht nur die Gegenwart, die vom Verhältnis Wachstum zu Zinsen berührt wird. Die brutalsten Sanierer – zu denen sich auch Merkel und Sarkozy selbst mit einigem Stolz zählen würden – stellen ja bekanntlich vor allem auf die Zukunft ab: Die zukünftigen Generationen könnten die unverantwortliche Schuldenlast schließlich nicht mehr schultern, die wir heute anhäufen. Dass diese Sicht schon allein deshalb grundfalsch ist, weil zwingend jedem Euro Schulden auch ein Euro Vermögen gegenüber stehen muss, und daher nicht nur Schulden, sondern auch Vermögen vererbt werden, muss uns dabei an dieser Stelle gar nicht kümmern. Der hier aufgezeigte Zusammenhang macht aber auch deutlich, dass, wenn die Zinsen dauerhaft über dem Wirtschaftswachstum liegen, es für kein Unternehmen Sinn macht, in die Zukunft zu investieren. Auch die private Wirtschaft investiert nur, wenn die Zinsen unter dem erwarteten Wachstum liegen. Die über die Zinsen vermittelten Kosten für die Investitionen lägen sonst ja dauerhaft über den durch das Wachstum vermittelten Erträgen. Diese aufgrund einer wenig rosigen Gegenwart auch wenig rosigen Zukunftsaussichten verhageln ihrerseits das gewünschte Ergebnis.
So könnten Merkel und Sarkozy also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und sich endlich als erfolgreiche Lehrmeister der Eurozone auf die Schulter klopfen, wenn sie nur ihre bornierte Haltung als Sparkommissare aufgeben würden: Statt das Wachstum durch Ausgabenkürzungen weiter herunterzuschrauben, müssten sie alles unternehmen, das Wachstum durch höhere Ausgaben zu steigern – durch Investitionen in nachhaltige Infrastruktur wie regenerative Energien und öffentliche Verkehrsmittel zum Beispiel und natürlich in Bildung und Soziales. Ohne ordentliche Lohnsteigerungen läuft natürlich nichts. Würden beide sich dann auch noch der Einführung von Eurobonds beugen und damit einen sicheren Hafen für Anleger schaffen und der Spekulation gegen einzelne Staaten das Handwerk legen, dann könnten sie die Differenz zwischen Wachstum und Zinsen auch von diesem Ende her vergrößern. Zukunftsinvestitionen und Schuldenabbau wären dann ein Klacks. Auch für die südlichen Nachbarn, auf die sich dann eine stärkere Nachfrage aus dem Norden richten und deren relative Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls gestärkt würde.
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