Zehn Jahre nach der Petersberger Konferenz von 2001 kommt am 5. Dezember 2011 die internationale Staatengemeinschaft erneut in Bonn zusammen, “um die Weichen für die Zukunft Afghanistans zu stellen.”
Gebt Ihnen Remarque zu lesen
“Ursprünglich waren sie keine Feinde; erst als sie Waffen bekamen…mir dämmerte, dass es die Waffen waren, die uns den Krieg aufzwangen. Es gab so viele Waffen in der Welt, dass sie am Ende die Oberhand über die Menschen gewannen und sie in Feinde verwandelten…Und zum ersten Mal begriff ich, dass ich gegen Menschen kämpfte; Menschen, die wie wir von starken Worten und Waffen verhext waren; Menschen, die Frauen und Kinder, Eltern und Beruf hatten und die vielleicht – wenn mir die Eingebung durch sie gekommen war – doch jetzt auch wach werden und sich genauso umschauen und fragen mussten: “Brüder, was tun wir denn da? Was soll das?”
(Erich Maria Remarque, Der Feind, 1930)
“Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hineingehen müssen, die nicht ganz vorne stehen.“
(Erich Maria Remarque, in einem Interview mit Friedrich Luft, in: Ein militanter Pazifist)
48 Jahre sind vergangen, seit er diese Einsicht in einem Gespräch mit Friedrich Luft äußerte, und immer noch werden auch in Deutschland Soldaten von Menschen in den Krieg geschickt, die selbst nicht hineingehen.
Jürgen Todenhöfer im Sinne Remarques
Im Juni 2009 hatte der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer in einem Spiegel-Streitgespräch mit dem damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden und Afghanistan-Kriegsbefürworter Peter Struck ganz im Sinne Remarques gefordert:
„Außerdem sollte jeder Abgeordnete, der für den Krieg stimmt, vier Wochen mit an die Front. Die sollten einmal in einem Schützenpanzer die Gefahr spüren, die sie unseren Soldaten und den Afghanen zumuten. Die Zahl der Kriege würde dramatisch sinken.“
Ein einsamer Rufer in seiner eigenen Partei.
Reinhardt Erös: Noch nie so viele getötete Zivilisten wie in diesem Jahr
Laut Reinhardt Erös, Arzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, fordern drei Viertel der Afghanen den sofortigen Abzug der NATO. Er beruft sich dabei unter anderem auch auf eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung. Allein 2010 seien 346 afghanische Kinder bei Anschlägen ums Leben gekommen – davon 200 durch die NATO. “Bei der Zivilbevölkerung haben wir noch nie so viele Tote gehabt wie in diesem Jahr”, so Erös im Interview mit dem Deutschlandfunk am 16. November 2011.
Erös hält fest: “Das sind vielleicht fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, die sich in den letzten zehn Jahren durch die Anwesenheit des Militärs, auch durch die der Hilfsorganisationen, aber vor allen Dingen durch die Militärs so richtig die Taschen vollstecken konnten. Und: “Auch die soziale, die humanitäre Situation im Land – da rede ich jetzt nicht von den 10, 15 Prozent der Privilegierten, vor allen Dingen in Kabul, sondern von der normalen Bevölkerung, den Bauern, den Bergbauern, den Nomaden und so weiter -, die soziale und humanitäre Situation für diese Bevölkerung, für die 80 Prozent, hat sich seit 2002 nicht verbessert.” Im Bereich der Krankenversorgung, der Trinkwasserversorgung und der schulischen Ausbildung seien in den letzten fünf, sechs Jahren keine Fortschritte erzielt worden, stellt Erös fest und verweist dabei auf den letzten Bericht des UN Entwicklungsprogrammes.Die NATO, so Erös, sorge nicht für Sicherheit, sondern für Unsicherheit. “Ohne den Abzug, physisch erkennbar, optisch erkennbar, der amerikanischen Truppen, wird es in Afghanistan keinen Frieden geben”, so Erös.
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“Ich stelle mir vor, ich habe für diesen Krieg gestimmt”
„Nach dem Tod zahlreicher Zivilisten durch einen Luftangriff in Afghanistan hat sich der Kommandeur der Internationalen Schutztruppe ISAF, McChrystal, bei der Bevölkerung des Landes entschuldigt. Er sei zutiefst betrübt über den tragischen Verlust unschuldigen Lebens, erklärte McChrystal. Um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiere, habe er eine gründliche Untersuchung des Vorfalls in Gang gesetzt.“
So berichtete der Deutschlandfunk am 23. Februar 2010 in den 8-Uhr-Nachrichten.
Eines muss klar sein: Bundestagsabgeordnete, die für den Einsatz deutscher Soldaten und damit für den Krieg als Mittel der Politik in Afghanistan gestimmt haben, sind mit verantwortlich für diese Toten und die vielen tausenden Menschen, die diesem nunmehr Jahre andauernden und immer weiter eskalierenden Krieg zum Opfer gefallen sind.
Bundestagsabgeordnete entscheiden über Leben und Tod. Welches Leben aber wird durch diesen Krieg und die durch ihn verschuldeten Toten gerettet?
Ich stelle mir vor, ich habe für diesen Krieg gestimmt und höre morgens beim Frühstück die oben zitierten Nachrichten. Muss mir nicht der Bissen im Halse stecken bleiben? Muss ich mich nicht schuldig fühlen? Habe ich nicht mit gemordet? Kann man sich – wie es McCrystal getan hat – für den Tod von Unschuldigen entschuldigen? Ist es nicht schlimmster Zynismus, darüber „betrübt“ zu sein, zu suggerieren, „eine gründliche Untersuchung des Vorfalls“ würde verhindern, „dass so etwas noch einmal passiere“, wo zahllose Untersuchungen zuvor die neuen Toten nicht verhindert haben? Und sagt einem nicht schon der gesunde Menschenverstand, dass, solange weiter Krieg geführt wird, weitere Menschen sterben werden?
Laut Grundgesetz sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „nur ihrem Gewissen unterworfen“. Es ist ein Allgemeinplatz, dass die politische Praxis anders aussieht. Sich aber bewusst zu machen, mit der eigenen Stimme für die Fortsetzung des Krieges und damit für den Tod und die Verstümmelung weiterer unschuldiger Menschen verantwortlich zu sein, vielleicht hilft das, zur Besinnung zu kommen, zur Vernunft, „jener Vernunft, die uns den Frieden befiehlt, weil der Unfriede ein anderes Wort für die extreme Unvernunft geworden ist.“ So Willy Brandt in seiner Rede anlässlich des 1971 an ihn verliehenen Friedensnobelpreises.
In seinem Testament hat Alfred Nobel festgelegt, nach welchen Kriterien der Friedensnobelpreis verliehen werden soll: „…an denjenigen, der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat.“
Dies sollte deutschen Parlamentariern allein Anlass genug sein, noch einmal zu überdenken, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren können, an diesem Freitag für eine Fortsetzung des Krieges in Afghanistan zu stimmen.”
(Erschienen am 23. Februar 2010 auf dieser Seite)
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