“Mit dem heutigen Bundesparteitag schließen wir unsere politische Neuausrichtung ab,” leitete Sigmar Gabriel seine heutige Rede auf dem Bundesparteitag der SPD ein. Und dann das:
“Die Namen, die für all das stehen, was unser Land gut durch die Krise gebracht hat, sind sozialdemokratische Namen: Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Frank Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, Olaf Scholz und viele andere. Herzlichen Dank an die, die das geschafft haben für unser Land, Genossinnen und Genossen.”
Damit hat Sigmar Gabriel – freilich ganz anders als von ihm beabsichtigt – Klarheit
geschaffen: Eine Neuausrichtung der SPD wird es so schnell nicht geben.
“Die anderen zeigen seit zwei Jahren nur, wie man Krisen vergrößern kann, statt sie zu lösen. Aber wir haben eben auch offen gesagt, wo wir Fehler gemacht haben, zum Beispiel bei der Leih- und Zeitarbeit, beim Niederlohnsektor”, behauptet Gabriel.
Das aber ist nicht wahr. Selbst als Gabriel mit DGB-Chef Sommer zum 1. Mai dieses Jahres in der FAZ den Niedriglohnsektor kritisiert hat, haben beide kein Wort verloren über die diesem Niedriglohnsektor zugrunde liegende Gesetzgebung, die unter Regierungsverantwortung der SPD entwickelt und verabschiedet wurde.
Und auch in seiner Parteitagsrede selbst war von Fehlern oder gar Fehleranalyse nichts zu hören. Dabei gaben die in der Rede ausgeführten Inhalte zur Selbstkritik Anlass genug – und, im Gegensatz zu Steinmeiers Rede gestern, hatte Gabriels Rede durchaus vorzeigbare Inhalte. Die aber können nicht glaubwürdig sein – außer vor den gläubigen Genossinnen und Genossen, deren Fundamentalismus sie ja bekanntlich schon einmal so weit trug, dass sie selbst die 23-Prozent-Niederlage bei der letzten Bundestagswahl frenetisch beklatschten, als Steinmeier gemeinsam mit Müntefering die Bühne betrat. Ein unvergessliches Bild. Und kein Maßstab.
Gabriel sieht die SPD auf Erfolgskurs und macht dies an den gewonnenen Landtagswahlen fest. Sie hätten der SPD wieder “ihren Stolz” zurück gegeben. Er lobt die Deligierten und die Parteimitglieder, die sich von den “Schwarzsehern und Berufspessimisten” nicht hätten “ins Boxhorn” jagen lassen.
Wenn er da mal nicht irrt: Die SPD liegt laut dem letzten Forsa-Wahltrend bei 25 Prozent und hat sich damit nur eng im Rahmen der statistischen Fehlerbreite von der historischen Wahlniederlage 2009 entfernt bzw. nicht entfernt – und das trotz des desolaten Zustands der Regierungskoalition. Jagt Gabriel da nicht eher seine eigenen Parteifreunde ins Boxhorn?
Es klingt sozialdemokratisch, wenn Gabriel sagt: “Uns muss es immer um konkrete Verbesserungen für die Menschen in Deutschland gehen.”
Wenn er aber in diesem Zusammenhang das folgende kritisiert:
“Wir stimmen auch nicht zu, wenn die FDP in der Regierung mal stillgestellt werden soll und deshalb Steuergeschenke versprochen werden, die den Geringverdienern nichts bringen, aber das Gemeinwesen 6 Milliarden Euro kosten.”
Dann sollte er berücksichtigen, dass die massiven Steuersenkungen in der Regierungsverantwortung der SPD mit dazu beigetragen haben, dass der Staat heute rund 75 Mrd. Euro weniger in den Kassen hat, als vor der Schröder-Ära. Dazu der Wirtschaftsweise Bofinger schon 2008, zur Zeit der schwarz-roten Koalition also: “Im letzten Jahrzehnt hat der deutsche Staat beispiellose Einschnitte in seinen finanziellen Ressourcen erlitten. Zwischen 2000 und 2008 ist die Staatsquote – also das Verhältnis von Staatsausgaben zur Wirtschaftsleistung – von 47,6 auf 43,5 Prozent gesunken. Das entspricht so etwa 100 Milliarden Euro weniger Ausgaben. Dem Staat fehlt vor allem Geld wegen der umfangreichen Steuersenkungen: Die öffentliche Einnahmequote – also das Verhältnis von Staatseinnahmen zu Wirtschaftsleistung – ist von 46,4 auf 43,3 Prozent gesunken. Da sind dem Staat etwa 75 Milliarden Euro im Jahr verloren gegangen.”
Bofinger ist Mitglied von Gabriels “Wirtschaftspolitischen Rat”. Es kann also nicht daran liegen, dass Gabriel nicht Bescheid weiß.
Gabriel aber sagt: “Nein, Steuerentlastungen auf Pump werden immer nur durch höhere Schulden bezahlt. Und am Ende sind es die Bürgerinnen und Bürger selbst, die die Zeche zahlen werden, weil das schließlich ein Schlag gegen die Kommunen wird. Die Eltern werden am Ende höhere Kindergartenbeiträge bezahlen. Die soziale Infrastruktur ist nicht mehr finanzierbar. Da sind wir dagegen, das machen wir nicht mit. Das ist Politik zulasten Dritter und eine Scheinentlastung, liebe Genossinnen und Genossen.”
Keine Partei aber hat Steuern so sehr zu Gunsten von Spitzenverdienern und Vermögenden gesenkt – Spitzensteuersatzsenkungen, Unternehmenssteuersenkungen, Steuerfreistellung für Veräußerungsgewinne, Abgeltungssteuer – wie die SPD. Und zwar die Herren, die Gabriel wie oben zitiert eingangs in seiner Rede so sehr mit Lob bedenkt.
Das bis hierher gesagte macht bereits deutlich, dass der SPD-Spitze jeglicher Sinn und Verstand und jegliche Aufrichtigkeit für eine glaubwürdige Neuausrichtung fehlt.
Gabriel weiter: “Die Menschen sorgen sich längst wieder um ihr Erspartes, um den Wert ihres Geldes, um die Sicherheit der Renten, um ihre Arbeitsplätze, ihren hart erarbeiteten Wohlstand und auch um die Zukunft ihrer Kinder.”
Das aber tun die Menschen in erster Linie aufgrund der Gesetzgebung der SPD. Sie hat die Zerstörung der Rentenformel durchgeboxt und auf die Rente mit 67 gedrängt, und die SPD war es, die mit Hartz IV die Menschen erst in Angst und Schrecken versetzt hat, ihr “hart erarbeitetes Vermögen” nach einem Jahr Arbeitslosigkeit und Hineinrutschens in Hartz IV zu verlieren.
Erneut behauptet Gabriel in seiner Rede: “Das Zeitalter des Marktradikalismus ist vorbei.” Dazu ist bereits alles gesagt.
Gabriel lügt sich auch außenpolitisch kräftig in die eigene Tasche, wenn er sagt:
“Aber was der arabische Frühling nicht braucht, sind Panzerlieferungen der deutschen Regierung an die feudalen Herrscherhäuser, die diesen Frühling unterdrücken wollen.
Der Kampf um Demokratie und Gerechtigkeit heißt auch, dass wir beim Thema Waffenexporte noch viel restriktiver werden müssen. Nie wieder dürfen wir denen Waffen geben, die damit die Freiheitsbewegungen in der Welt unterdrücken, liebe Genossinnen und Genossen! Nie wieder!”
Natürlich kann er mit “nie wieder” die SPD gemeint haben, unter deren Regierungsverantwortung Deutschland zum drittgrößten Waffenexporteur aufgestiegen ist – Waffenlieferungen nach Saudi Arabien inklusive. Aber warum sagt er dies nicht. Es gibt keine Spur Aufrichtigkeit in der Rede Gabriels, berücksichtigt man die Politik der SPD in Regierungsverantwortung.
Gabriel: “Die Zeitenwende, vor der wir im Augenblick stehen, stellt uns vor gewaltige Herausforderungen: die Macht der Finanzmärkte zu brechen, die überbordende Staatsverschuldung zu senken, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wieder zusammenzuführen und die ökologische Frage, also die ungebremste weltweite Erwärmung unseres Planeten, zu beantworten. Weder Liberale noch Konservative haben auf diese Fragen glaubwürdige Antworten. Die heutigen Liberalen sind ausgezehrt. Was haben Westerwelle und seine halbstarken Nachfolger aus dieser einstmals so stolzen Partei bloß gemacht?”
Muss Gabriel diese Frage im Wortlaut nicht zuallerst an sich selbst richten und an die, die er so ausdrücklich lobt: Steinmeier, Steinbrück, Müntefering. Schröder? Was haben sie aus der einstmals so stolzen SPD gemacht?
Genau diese politischen Sandkastenspiele sind die Menschen leid, sie sind es leid belogen zu werden und den parteipolitischen Tatiken zuzuhören; sie wenden sich von der Politik ab, auch von der SPD, zu tausenden. Wann wacht die SPD endlich auf? Was muss noch passieren?
Gabriel: “Die größte Herausforderung der Sozialdemokratie, Genossinnen und Genossen, ist etwas ganz Anderes: Das ist die Ohnmacht, das Gefühl der Ohnmacht, das inzwischen viele Menschen in Deutschland erfasst hat; der tief sitzende Eindruck, dass die Politik ohnehin nichts mehr bewirken kann, dass sich Engagement in der Politik nicht lohnt, nicht einmal mehr das Wählen gehen. Die Sozialdemokratie lebt von der Hoffnung der Menschen.”
Und hat doch nichts begriffen. Spricht sich gewissermaßen selbst schuldig – ohne es zu merken.
Gabriel: “Wenn wir vor 20 Jahren in die Betriebe gegangen sind – wie war das denn? Wenn ich dahin gegangen bin, dann haben mich die Jugendvertreter und Betriebsräte als Sozialdemokraten identifiziert. Wenn ich heute hingehe, bin ich oft nur einer von denen aus der Politik – ein Politiker. Der Kampf gegen die Abwendung von der Politik, ganz allgemein gegen den sich verfestigenden Eindruck: „die da oben, wir hier unten“, lässt sich nur gewinnen, wenn wir neben allen Programmen, Gesetzesinitiativen und praktischer Politik auch unser Verhalten ändern, liebe Genossinnen und Genossen.”
“Dann tu es doch endlich!”, möchte man ihm zurufen.
Es geht munter so weiter im Redetext Gabriels.
Ich schließe hier mit dem Thema Bildung ab. Gabriel verweist darauf, dass Deutschland 20 Mrd. Euro weniger für Bildung ausgibt als der Durchschnitt der Industriestaaten. Es sind 25 Mrd – jährlich! Und das war auch schon zur SPD-Regierungszeiten so. Und wem nichts wichtiger ist, als jeden Euro Mehreinnahmen in den Schuldenabbau zu stecken wie Gabriel, und wer sich gleichzeitig nicht traut die Einnahmebasis des Staates wirklich kräftig zu verbessern, der wird daran auch so schnell nichts ändern.
Für die Nennung eines wesentlichen Inhalts sei Gabriel an dieser Stelle jedoch ausdrücklich gelobt:
Gabriel: “Lasst uns aber nicht vergessen, dass es um mehr geht, nämlich auch um die sozialen Grundlagen des Rechtsradikalismus. Sie zu bekämpfen, muss vielmehr Gegenstand unserer politischen Anstrengungen werden. Es geht daher auch um eine geistige Auseinandersetzung in der Mitte der Gesellschaft; denn Tatsache ist, dass Rechtsradikalismus umso größere Erfolgschancen hat, je mehr in der Mitte der Gesellschaft offene Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile ignoriert werden, verdrängt oder sogar propagiert werden.”
Aber auch hierzu gehört eine Auseinandersetzung mit der eigenen Politik. Denn wohl keine Gesetzgebung hat dieses Land so sehr gespalten wie die Agenda 2010 und die unter sozialdemokratischer Ägide vorgenommenen Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Vermögende.
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