Zum SPD-Bundesparteitag: Demokratie und Gerechtigkeit – oder Maß und Mitte?

Der Applaus war müde, als Peer Steinbrücks erste Sätze über das Rednerpult nach den Zuhörerinnnen und Zuhörern langten. Und so richtig beleben konnte er das Publikum bis zum Schluss nicht. Waren die Genossinnnen und Genossen noch verkatert vom vorangegangenen Parteitagsabend? Dagegen spricht die recht angeregte Diskussion, die sich an Steinbrücks Rede um das von ihm eingebrachte Steuerkonzept der SPD anschloss.

Die diskutierte Reichensteuer wurde aber freilich, wie zuvor gestern abend der Erhalt des heutigen Rentenniveaus, am Ende einkassiert – dafür warf zum Schluss der Debatte der Parteivorsitzende persönlich noch einmal sein ganzes Gewicht in die Waagschale. “Wo kriegen wir mehr Geld her”, sei doch schließlich die entscheidende Frage, so Gabriel. Nicht also von wem. Und so würden auch unter einer zukünftigen SPD-Regierung weiterhin für Einkommen aus Kapital weniger Steuern gezahlt als für Einkommen aus Arbeit. Und das ohne Gegenstimme. Guten Morgen, Neuanfang!

Steinbrück stellte, wie sein Vorredner, Parteichef Gabriel, gestern, gleich zu Beginn seiner Rede klar, dass es einen wirklichen Neuanfang mit der SPD nicht gibt:

“Wo stünde die Bundesrepublik heute, ohne die Reformen von Schröder?”, fragte Steinbrück ins Publikum, und erntete immerhin nur mäßiges Klatschen.

“Wir dürfen mit mehr Selbstbewusstsein über das reden, was uns gelungen ist in den letzten zehn Jahren”, so Peer Steinbrück unbeirrt.

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Steinbrück versuchte sich dann unter kräftigem Herumrudern seiner Arme an einer “neuen Erzählung” für Europa. Auf mich wirkte er dabei ein wenig wie ein Ertrinkender auf hoher See. Doch das Wort Erzählung schmeckte mir gleich zu Beginn seines später dann inflationären Gebrauchs äußerst fad: Vielleicht weil die Menschen von der Politik nicht länger “Erzählungen”, um nicht zu sagen leere Worte hören, sondern Taten sehen wollen. Und die Kluft zwischen dem, was auf diesem Parteitag, nicht nur von Steinbrück, nach vorne blickend als Erzählung verkauft wurde und rückblickend von den Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung getan wurde, diese Kluft hat sich mit diesem Parteitag nicht geschlossen.

Es sind Aussagen wie diese, hier aus der Rede Steinbrücks, die dies augenscheinlich machen: Freiheit sei dort, wo ein Sinn für Gemeinwohl herrsche. Dies könne die SPD am besten umsetzen.

Jeder normale Mensch reibt sich an dieser Stelle die Augen und fragt sich, warum die wachsende Schere zwischen Arm und Reich dann überhaupt ein Thema ist und so viele Menschen verzweifeln und sich von der Politik abwenden?

Die folgenden Sätze freilich glaubt man Steinbrück – aber sie sind eben nicht neu und zudem falsch bzw. wecken Ängste, die so nicht gerechtfertigt sind:

“Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme demografiefester machen.”

“Staatsverschuldung ist Umverteilung und verhindert Zukunftsinvestitionen. Man darf die Nettoneuverschuldung nicht erhöhen.”

Als wichtigste Punkte des Leitantrages nennt Steinbrück die Haushaltskonsolidierung, den Mindestlohn und “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit”. Und zwar in dieser Reihenfolge.

Und Steinbrück schließt mit den Worten: “Wir werden über Steine gehen müssen. Aber das Entscheidende ist: wir gehen zusammen.”

Und die Bevölkerung erst?

Wer aber will da wirklich mitgehen? War der Weg seit 1998 nicht schon steinig genug für viele, die heute häufig genug wehr-, mittel- und perspektivlos dastehen und keinen Anschluss mehr an die Gesellschaft finden?

Steinbrück aber spricht selbstbewusst von “prohibitiver Besteuerung” und meint die Forderung der SPD-Linken, trotz der Anhebung des Spitzensteuersatzes von 42 Prozent auf 49 Prozent, die Reichensteuer für sehr hohe Einkommen beizubehalten.

Nein, um es mit einem Buchtitel Steinbrücks auszudrücken: Unter dem Strich hat die SPD seit ihrer historischen Wahlniederlage 2009 nichts dazu gelernt und daher auch nichts Neues zu bieten. Noch so viele heere Worte und noch so viel lila Farbe können das nicht verdecken. Man kann eine feuchte Wand nicht einfach überstreichen, ohne dabei zusehen zu müssen, dass der neue Putz sogleich wieder Risse bekommt und abfällt und so die alten Schäden wieder sichtbar werden. Man muss die Wand zunächst trocken legen, grundieren, neu verputzen – vielleicht sogar ein gänzlich neues Fundament legen; manchmal hilft es auch schon, das Fundament darunter wieder freizulegen.

Die Neuausrichtung der SPD ist nicht abgeschlossen, wie Gabriel und Nahles suggerieren. Eher scheint mir folgender Gedanke für den derzeitigen Zustand der Partei treffend: So, wie die SPD dem Zeitgeist des Marktes oder des Neoliberalismus, der Arbeitsmarkt- und Finanzmarktderegulierung, hinterhergelaufen ist und diesen Zeitgeist dann schließlich nicht nur eingeholt, sondern überholt hat, in dem sie mit ihrer Gesetzgebung vor ihm herlief und ihm den roten Teppich ausrollte, so versucht die SPD jetzt dem neu aufkommenden Zeitgeist hinterherzurennen, der dem Staat zurecht wieder größere Bedeutung für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung beimisst. Aber hier ausgerechnet zieht die SPD nicht am Zeitgeist vorbei und wird selbst zum Wegbereiter einer neuen, an alten sozialdemokratischen Werten orientierten Politik, bei der das Gemeinwohl wieder glaubhaft an erster Stelle stehen müsste. Die alten neoliberalen Kleider kleben der SPD immer noch als schwere, abgetragene Lumpen am Leib und erlauben es ihr nur, sich mühsam hinter dem neuen Zeitgeist herzuschleppen, Anschluss zu suchen, nicht wissend, wohin er sie führt.

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Ein letzter Beleg dafür: Der Parteitag stand unter der Überschrift: Demokratie und Gerechtigkeit. Gemessen an der Häufigkeit der getroffenen Wortwahl und der hierüber vorgegebenen politischen Ausrichtung, die eben keine Neuausrichtung ist, hätte der Parteitag ehrlicherweise aber unter der Überschrift: “Maß und Mitte” stehen müssen. Denn das, nicht “Demokratie und Gerechtigkeit”, waren die in der für sozialen Wohlstand und Ausgleich so zentralen Frage der Besteuerung am heutigen, letzten Tag des SPD-Bundesparteitags die am häufigsten genannten Worte. Ich bin sogar geneigt zu sagen: Der Parteitag hätte ehrlicherweise unter der Überschrift “Mittelmaß” stehen müssen. Denn nicht mehr hat die “Troika” aus Gabriel, Steinmeier und Steinbrück ausgestrahlt.


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