“Das Zeitalter des Marktradikalismus ist vorbei”, erklärt der Partei-Chef der SPD in einer Videobotschaft zum SPD-Bundesparteitag, der vom 4. Dezember bis 6. Dezember in Berlin stattfindet. “Die Menschen empfinden wieder, dass es zu wenig Demokratie gibt und zu viel Herrschaft der Finanzmärkte, dass es zu wenig soziale Gerechtigkeit gibt und viel zu viel Ellenbogengesellschaft”, so Gabriel weiter.
Offene Fragen
Erste Frage: Haben “die Menschen” das nicht schon immer empfunden – und deswegen vielleicht auch die SPD 2009 abgewählt, deren Finanzminister, Peer Steinbrück, für die Finanzmarktderegulierung in Deutschland und das zögerliche Verhalten der schwarz-roten Koalition in der aufziehenden Finanzmarktkrise maßgeblich Verantwortung trug, und deren damaliger Kanzlerkandidat und heutige Fraktionschef, Frank Steinmeier, die demokratiefeindliche und grundgesetzwidrige (Hartz IV-Sätze) Agenda 2010 maßgeblich gestaltete und diese bis heute verteidigt?
Zweite Frage: Wie kommt Gabriel darauf, dass das Zeitalter des Marktradikalismus vorbei sei?
Bisher keine grundsätzliche Neupositionierung der SPD
Weder hat sich die SPD grundsätzlich neu positioniert, noch hat sich die Welt, in der wir leben, seit 2007 irgendwie spürbar verändert, zumindest was das Geschehen an den Finanzmärkten anbelangt, oder die Lohnentwicklung, die hierüber erzielten Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und ihr Spiegelbild, die Leistungsbilanzdefizite vieler Handelspartner, die Einkommens- und Vermögenskonzentration usw. Im Gegenteil, der Marktradikalismus ist in vollem Gange – und selbst sich als SPD-Linke verstehende Sozialdemokraten haben nichts Besseres zu tun, als die SPD von ihrer Verantwortung frei zu sprechen und sich mit Sprechblasen gegen die Regierung zu begnügen. Ausnahmen bestätigen die Regel.
“Wir verschweigen dabei nicht, dass auch wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und als Sozialistinnen und Sozialisten in Europa Fehler gemacht haben in der Vergangenheit. Auch wir haben dem Druck der Kapitalmärkte nachgegeben, und es wird Zeit, dass wir die Richtung wieder ändern”, sagt Gabriel schließlich noch und lädt zur Diskussion und Kritik ein.
Von der Agenda-Politik hat sich Gabriel allerdings bis heute nicht glaubwürdig distanziert – und scheint sich doch hier ein bisschen zu arg hinter den “Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen und Sozialisten und Sozialistinnen in Europa” zu verstecken; die sind ja nicht zuletzt durch die Gesetzgebung der deutschen Sozialdemokratie – Agenda 2010, Lohn- und Steuerdumping, Zerstörung der Rentenformel und Rente mit 67 – unter Druck geraten. Steinmeier hat diesen negativen Zusammenhang gerade heute erst auf seine Weise, also positiv, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau bestätigt: “Wir haben in Deutschland die Hausaufgaben gemacht, die andere Länder jetzt unter ungleich schwierigeren Bedingungen vor sich haben”, so der SPD-Fraktionschef. Er gibt damit gleichzeitig zu erkennen, dass er den Kern der Eurokrise bis heute nicht verstanden hat.
Die SPD-Generalsekretärin bringt es derweil gegenüber Spiegel-online auf den Punkt:
“Unsere Grundsanierung ist abgeschlossen”, meint Generalsekretärin Andrea Nahles. “Wir sind bereit, 2013 zu regieren.”
“Natürlich”, kommentiert da selbst Spiegel-online ironisch – und macht Front gegen die SPD-Linke. Spiegel verkauft seinen Leserinnen und Lesern die Festschreibung des Rentenniveaus doch tatsächlich als “Wählerverschreckungsprojekt”, weil dann ja die Beitragssätze steigen müssten – eine Propaganda, die noch einmal zeigt, dass der Marktradikalismus noch längst nicht beendet ist. Bei einer Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze könnten die Beiträge sogar sinken (siehe dazu das Gespräch mit Gustav Horn hier). Außerdem: Die Kosten, die die Menschen für private Zusatzversicherungen ausgeben müssen, wenn sie sich diese denn überhaupt leisten können, verschweigt der Spiegel natürlich.
Dass das Ende des Marktradikalismus selbst noch nicht bei Gabriels engsten “Troika”-Genossen, Steinmeier und Steinbrück, angekommen ist, verrät ebenfalls der Spiegel – dem man als Sprachrohr Steinmeiers und Steinbrücks durchaus Glauben schenken darf: “Das ist einfach nicht klug´, kommentiert Steinmeier die linken Vorstöße. Und auch Steinbrück ist, wie nicht anders zu erwarten, für Maßhalten beim sozialen Ausgleich: “Lieber sollten sich die Genossen an den Grünen orientieren, die auf ihrem jüngsten Parteitag ein maßvolles Steuerkonzept beschlossen.”
Und der Spiegel gibt sich – zumindest was die Darstellung der Sozialdemokraten anbelangt, die politisch der Erwartungshaltung seiner Chefredakteure entsprechen – aufrichtiger und realitätsnäher als Gabriel, wenn er darauf hinweist:
“Zu Zeiten von Rot-Grün sorgte Steinmeier als Kanzleramtschef für teils deutliche Steuersenkungen. Zu Zeiten der Großen Koalition beschlossen sie gemeinsam Härten in der Rentenpolitik. Das Gegenteil, so haben Steinbrück und Steinmeier ihren Leuten bereits signalisiert, werden sie künftig kaum vertreten, zu sehr würde ihre Glaubwürdigkeit leiden. Nur wären sie dann wohl auch keine passenden Kanzlerkandidaten.”
Spiegel zeigt, was los wäre, würde die SPD nach links rücken
Wie irrwitzig Spiegel-Online Meinung macht, zeigt sich dann erneut in diesen Sätzen:
“Wäre er (Anmerkung Florian Mahler: Gabriel) plötzlich Favorit in der K-Frage, und das auch noch zwei Jahre vor der Wahl, könnte es mit dem Umfragehoch der Genossen schnell zu Ende sein.”
Nach den aktuellsten Forsa-Wahltrend kommt die SPD auf 25 Prozent der Wählerstimmen. In den Medien beherrscht aber gerade der Liebling der so genannten Leitmedien, Peer Steinbrück, das Bild der SPD.
Realistisch dann wieder die Einschätzung des Spiegels zur SPD-Linken, die laut Spiegel bereits wieder Kompromissbereitschaft signalisiert. Zumindest wäre es eine wirkliche Überraschung, sollte die Linke in der SPD nicht wieder nachgeben und alles Kritische in Gremien auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Ottmar Schreiner verweist dann auch schon einmal vorab auf eine erneute Rentenkommission: “Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir beschließen schon auf dem Parteitag, das Rentenniveau festzuschreiben. Oder wir beraten in einer erneuten Rentenkommission der Partei über das Problem.”
Gabriel bleibt widersprüchlich
Schließlich ist, nimmt man Gabriel beim Wort, noch zu Fragen, ob er denn selbst nicht weiterhin dem Marktradikalismus aufsitzt, wenn er schreibt:
“Ich bin dagegen, dass wir auf dem SPD-Parteitag auf die Schnelle einfach das gegenwärtige Rentenniveau festschreiben. Das würde einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten, den wir nicht finanzieren können. Und wir dürfen nichts versprechen, was wir nach in der Wahl in der Regierung nicht einlösen können. Aber wir brauchen eine sehr offene Debatte darüber, was bei der privaten Zusatzversorgung funktioniert und was nicht.” (Eintrag von Gabriel auf seiner öffentlichen Facebook-Seite, Mittwoch, 30. November, 02:06)
Jetzt ist dort zu lesen, dass der SPD-Chef seine Parteitagsrede vorbereitet. Wirtschaft und Gesellschaft wird darüber berichten. Bleiben Sie dran.
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