Wie falsche Vorstellungen uns in die Krise ritten – und immer weiter hineinreiten

::Buchtipp::

Eine Rezension des neuen Buches von Heiner Flassbeck: Zehn Mythen der Krise

Lassen wir am Anfang dieser Rezension einmal nicht den Autor selbst zuerst zu Wort kommen, sondern einen führenden Vertreter der Mythen, gegen die sich das neu im Suhrkamp Verlag erschienene Buch des Ökonomen Heiner Flassbeck richtet. Jörg Asmussen, Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB), und davor Staatssekretär zuerst unter Finanzminister Peer Steinbrück, dann unter Finanzminister Wolfgang Schäuble, sagte am 19. Januar 2012 im Interview mit dem Deutschlandfunk:

“Die Hauptverantwortung für die gegenwärtige Krisenbekämpfung liegt bei den Regierungen, weil diese Krise ist ja, um es ganz deutlich zu sagen, keine Krise des Euros, sondern es ist eine Staatsschuldenkrise, und da diese von einer unsoliden Finanzpolitik herbeigeführt wurde, liegt es eben auch an der Finanzpolitik, uns im Wesentlichen aus dieser Krise wieder herauszuführen.”

Vielleicht ist es Ironie der Geschichte, dass derselbe Asmussen 1998 persönlicher Referent des Staatssekretärs im Bundesministerium der Finanzen war, der heute Chefvolkswirt der UN-Organisation für Handel und Entwicklung ist und eben das Buch geschrieben hat, das im Folgenden besprochen werden soll und den Titel Zehn Mythen der Krise trägt.

Unter “Mythos III: Die Staatsschulden sind die eigentliche Ursache der Krise”, schreibt Flassbeck, dass “sich glasklar nachweisen lässt,…dass weltweit die Schulden eindeutig erst nach dem Ausbruch der Finanzkrise und wegen der von ihr ausgelösten Rezession sowie der Rettung von Banken gestiegen ist.” Und tatsächlich belegen die im Buch enthaltenen Graphiken, dass die Staatsschulden in Europa wie in den USA erst mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 kräftig nach oben schnellen.

Leider war die Moderatorin des Deutschlandfunks, Sylvia Engels, über diesen Sachverhalt offensichtlich nicht informiert, was man bei der Themenbreite, die der Sender am frühen Morgen offeriert, vielleicht auch nicht erwarten kann. Hätte sie es aber gewusst, hätte sie Asmussen nicht so leicht davon kommen lassen müssen. Allerdings sprechen die Fragestellungen der Moderatorin eher dafür, dass sie die Mythen, die Flassbeck in seinem Buch aufzeigt und zu widerlegen sucht, perfekt verinnerlicht hat. Immer wieder problematisiert Engels die Anleihekäufe der EZB und behauptet schließlich: “Ob das Vertrauen der Märkte in Euro-Anleihen zurückkehrt, hängt ja auch vor allen Dingen davon ab, wie in den Euro-Krisenstaaten konsolidiert wird. Im Blickpunkt stehen dann Griechenland und Italien. Sehen Sie hier Fortschritte?”

Heiner Flassbeck

Dazu heißt es unter ”Mythos IV: Ganz unabhängig von den Ursachen: Die Staaten müssen sparen” bei Flassbeck:

“Ein Staat, der, wie das in der Eurokrise geschieht, seine Sparversuche mit dem ´Vertrauensverlust der privaten Investoren in die Staaten´ begründet, hat das System ganz fundamental missverstanden.”

Und unter “Mythos V: Es gibt gar keine Eurokrise, Europa ist wegen der zu hohen Staatsschulden einiger kleiner Länder in der Krise”, schreibt er:

“Die Eurokrise ist sozusagen der Höhepunkt der Verdrängung der Ursachen der Krise bzw. der Geiselnahme derselben durch die herrschende Politik und einer Form ihrer Umdeutung, die in eine Katastrophe führen muss.”

Besser als das eingangs angeführte Interview des Deutschlandfunks mit einem der führenden Vertreter der deutschen Sicht auf die Eurokrise, kann man das neue Buch Flassbecks nun wirklich nicht rechtfertigen. Freilich bräuchte man in den Archiven des Deutschlandfunks und anderer Medien nur irgend einen anderen Tag herauszugreifen und hätte mit Sicherheit einen ganzen Köcher voll in die gleiche Richtung zielender Aussagen wie der Asmussens und Engels. Das wiederum bestätigt Flassbecks Aussage, die er am Ende seines Buches trifft. Sie klingt wie ein verzweifelter Appell: “Knapp sind nicht die Lösungsvorschläge, sondern die Bereitschaft bei allzu vielen und allzu Mächtigen, sich von ihren Interessen und ihren alten Erkenntnissen zu lösen, um den Diskurs, der offenen Diskussion in einer offenen Gesellschaft, eine wirkliche Chance zu geben.”

“Provokant”, wie es in der Synopse des Buches heißt, ist der Blick Flassbecks “auf das ökonomische Desaster, das Europa derzeit in Atem hält”, dann sicherlich auch nur für diejenigen, die sich jenen Mythen aus welchen Gründen auch immer verschrieben haben. Sie haben allerdings die Lufthoheit in den deutschen Medien, Wirtschaftswissenschaften und in der Politik. Eigentlich “provokant” sind die Verhältnisse, die es Leuten wie Asmussen erlauben, ihre Ammenmärchen unwidersprochen und losgelöst von jedweder Erfahrung zu verbreiten. “Provokant” auch die Verhältnisse, die die diesen Mythen folgende Politik hervorruft. “Die Menschen verzweifeln an der Globalisierung, und die Demokratie ist in höchstem Maße gefährdet”, warnt Flassbeck in diesem Zusammenhang. “Auf der Strecke bleiben die einfachen Menschen – und am Ende die Demokratie.” Resigniert stellt Flassbeck fest: “Es ist das mangelnde Verständnis des komplexen Systems der globalen Ökonomie, das bis weit in die Linke hinein das permanente Versagen der Politik erklärt.”


Dieser Schaden wird, wenn überhaupt, nicht so leicht zu beheben sein. Die in allgemeinverständlicher, auch für Nicht-Ökonomen nachvollziehbarer Sprache entworfenen Zusammenhänge zeigen aber, wie eine Reparatur des Systems aussehen könnte. Wer nach einer gut lesbaren Bedienungsanleitung in dieser Hinsicht sucht, wird in Flassbecks neuem Buch fündig. Und was sind 4,99 Euro gegen Milliarden-Rettungsschirme, die aufgrund einer falschen Ursachenanalyse und den ihnen zugrundeliegenden Mythen scheitern müssen.


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