Die neue Glorifizierung der Agenda-Politik – ein Boll(mann)werk gegen ein soziales Europa

Wie schafft man es als Leiter des Parlamentsbüros der taz zur FAZ? Na, vielleicht ist der Schritt ja gar nicht so groß. Immerhin steht die taz doch den GRÜNEN nahe, und die haben die Agenda 2010 doch mit Schröder gemeinsam auf den Weg gebracht. Hans-Christian Ströbele hat sie höchstselbst mit gegründet und die ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer war bei der taz als Druckerin beschäftigt. Und: Auch der Redenschreiber von Bundeskanzler Schröder, Reinhard Hesse, hat seine Karriere bei der taz begonnen.

Damals freilich, 1978, war die Welt noch eine andere. So richtig wurde die Bundesrepublik ja erst seit 1998 umgekrempelt. Selbst Ströbele, häufig gegen den  Strom seiner eigenen, für Sozialabbau und die Beteiligung an Kriegseinsätzen stimmenden Partei anschwimmend, bekannte 2007 in einem Interview: “In der Auseinandersetzung um die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 habe ich Kompromisse gemacht, die ich mir vorher nie habe vorstellen können.”

In solch einen Gewissenskonflikt ist der Autor Ralph Bollmann vielleicht nie geraten. Jedenfalls schreibt der ehemalige Leiter des Parlamentsbüros der taz in der gestrigen online-Ausgabe der FAZ unter der Überschrift “Lob für Gerhard Schröder“:

“Das deutsche Jobwunder macht die Hartz-Reformen zum Vorbild für ganz Europa – und Gerhard Schröder darf sich im Nachhinein als Mann der Stunde fühlen. Nur die SPD bleibt auf Distanz zur Agenda 2010.”

Dafür, dass der Autor beim Schreiben des Artikels eher von persönlicher Begeisterung für die Agenda 2010 getrieben war als von den realen Folgen der Hartz-Reformen, spricht allein schon, dass er die Vorbildfunktion, die die Agenda 2010 in den Augen von Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy ausübt, in Boulevard-Manier gleich auf “ganz Europa” überträgt. So kann er in seinem Beitrag auch keinen weiteren Befürworter außer jene Beiden namentlich nennen und muss den Kunstgriff unternehmen zu schreiben: “…auch andere europäische Regierungschefs widersprechen nicht.” Vielleicht sind solch Methoden ja aber gerade Journalisten-Preis-verdächtig und solch Beobachtungen daher allein schon völlig unzeitgemäß.

Für eine geradezu blinde Verehrung des Altkanzlers durch den Journalisten sprechen aber auch Sätze wie dieser:

“Und das alles, weil Schröder unter Opferung seiner Kanzlerschaft jene Reformen durchsetzte, die alle übrigen Europäer jetzt nachholen müssen.”


Von den Opfern, die die unter Schröder durchgesetzten “Reformen” bis heute den Menschen abverlangen, schreibt der Autor natürlich keine Silbe; die Angst zum Beispiel, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Hartz IV zu fallen; der Zwang jede Arbeit annehmen zu müssen; die alltägliche Opferung der Menschenwürde, die zum Beispiel die anonym gehaltenen Schreiben von der Agentur für Arbeit mit sich bringen; das nicht nur finanzielle Opfer der Betroffenen, nur für verteuerte Telefoneinheiten die Agentur für Arbeit anrufen zu können – und zwar nicht einen persönlichen Sachbearbeiter, sondern eine anonyme Zentrale; die Opferung der angesparten Altersvorsorge – die einem nur aufgeschwatzt werden konnte, weil Schröder und seine Genossen gemeinsam mit den GRÜNEN nichts besseres zu tun hatten, als die Umlagefinanzierung zu zerstören -, die auf Hartz IV angerechnet wird, also erst einmal aufgelöst werden muss, wie mir jüngst ein Betroffener erzählte, usw.

Für Bollmann ist nur wichtig:

“Es sind schöne Tage für Gerhard Schröder, vielleicht die schönsten, seit er sich am Wahlabend 2005 mit einem hormonstarken Fernsehauftritt vom Amt des Bundeskanzlers verabschiedete.”

Bei einer wirklichen Heldenverehrung muss natürlich selbst der unmögliche, von blinder Machtbesessenheit gekennzeichnete Abgang Schröders noch als “hormonstarker Fernsehauftritt” gefeiert werden.

Aber auch, was die Haltung der SPD-Spitze anbelangt, irrt der Autor gewaltig. Offensichtlich hat er sich die Reden zum Bundesparteitag, auf den er sich bezieht, nicht gänzlich zur Gemüte geführt. Aber Gründlichkeit wäre nun auch wirklich einem Stilbruch gegenüber dem eigenen Artikel gleichgekommen. Außerdem hätte es der durchsichtigen Stoßrichtung des Beitrags den Wind aus den aufgeblasenen Segeln genommen. So schreibt Bollmann lieber:

“Nur die Sozialdemokratie selbst mag noch immer nicht einstimmen in das Lob des SPD-Kanzlers.” Und: “…zu viel Mühe hat Parteichef Sigmar Gabriel in den zwei Jahren seiner Amtszeit darauf verwandt, sich von der Agenda 2010 abzusetzen. Lieber überlässt die Sozialdemokratie ihre Erfolge anderen, als den mühsam wiedergefundenen Parteifrieden zu gefährden.”

Wie sehr sich Gabriel wirklich von der Agenda 2010 abgesetzt bzw. nicht abgesetzt hat, ist diesen Worten zu entnehmen, die er auf seiner Parteitagsrede im Dezember in den Saal rief:

“Die Namen, die für all das stehen, was unser Land gut durch die Krise gebracht hat, sind sozialdemokratische Namen: Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Frank Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, Olaf Scholz und viele andere. Herzlichen Dank an die, die das geschafft haben für unser Land, Genossinnen und Genossen.”

“Does that ring a bell?”, würde der Engländer an dieser Stelle sicherlich zu recht fragen. Was Bollmann anbelangt, wäre diese Frage aber ebenso sicher vergeblich. Denn wer so auffällig Propaganda betreibt, ist wohl kaum daran interessiert, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das eigentliche Problem der deutschen Sozialdemokratie ist dann auch ein ganz anderes. Das freilich passt einem wie Bollmann natürlich gar nicht ins einmal vorgefertigte Bild. Dabei hätte ihn die Antwort, die er aus dem Willy Brandt Haus, der Parteizentrale der SPD, erhielt und zitiert, auf die richtige Fährte bringen können:

“Nachfragen in der Parteizentrale werden mit der Sprachregelung abgewehrt, Hartz IV sei ´ein Thema der Geschichte´, die Bewertung bloß noch ´von akademischem Interesse´.”

Genau das ist ja das Grundproblem der SPD. Die Partei bildet sich tatsächlich ein, Hartz IV sei Geschichte, dabei ist die Gesetzgebung der Agenda 2010 überall präsent. Die SPD versucht selbst mit Anträgen im Deutschen Bundestag (1) an ihr herumzuwerkeln – freilich ohne sie an den Wurzeln ihres Übels zu packen; man denke darüber hinaus nur an das Geschacher um die fünf Euro Erhöhung der verfassungswidrigen (!) Hartz IV-Sätze, mit der sich vermeintliche Nachwuchstalente der SPD vor gar nicht langer Zeit mit Regierungsvertretern die Nächte um die Ohren schlugen.


Das alles zeigt, dass das politische Interesse der SPD weder “akademisch” ist, noch auf einer wirklichen “Neuausrichtung” (Gabriel) fußt, sondern allenfalls einen kleinteiligen, recht unverbindlichen Angriff auf die Regierung darstellt. Man gewinnt fast den Eindruck, als sei um das Willy Brandt Haus herum eine intellektuelle Flugverbotszone eingerichtet worden. Der einzige mir bekannte Versuch, sich grundsätzlich mit den eigenen politischen Fehlern auseinanderzusetzen und hiervon ausgehend nach vorne zu schauen, der aus der SPD selbst das Licht der Welt erblickte, ist bisher der Beitrag von Andrea Ypsilanti aus dem Januar 2011 geblieben. Ein einziger Grundsatzartikel aus der SPD nach der historischen Wahlniederlage 2009 ist freilich eine traurige akademische und politische Auslese. Er wurde konsequenterweise in der SPD-Spitze auch nicht aufgegriffen, vielleicht nicht einmal wahrgenommen. Schließlich legt auch der von Bollmann zitierte SPD-Politiker Karl Lauterbach Zeugnis für einen nicht stattgefundenen Kurswechsel der SPD ab:

“Ausgerechnet ein Parteilinker ist es, der die Agenda-Politik am überzeugtesten verteidigt, der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. ´Evidenzbasiert´ ist sein Lieblingswort in der Medizin, zu Deutsch: Der nachweisbare Erfolg entscheidet, ob eine Behandlungsmethode richtig ist oder falsch. ´Die gute Arbeitsmarktlage ist zu mindestens 50 Prozent den Hartz-Reformen zu verdanken´, sagt er. ´Es kommt immer schlecht an, wenn man zu den Dingen nicht steht. Wir sollten das selbstbewusst vertreten: Die SPD hat Recht gehabt und das Richtige getan.”

So Lauterbach. Ihn als “Parteilinken” wiederzugeben zeigt ein weiteres Mal, dass Bollmann wie so viele andere Journalisten nicht in der Lage zu sein scheint, zu reflektieren. Irgendwie muss der Begriff Linker, ganz unabhängig wie man selbst zu dem Begriff links oder “linker Politik” steht, doch auch durch Denken und Handeln begründet sein. Das ist bei Lauterbach offensichtlich nicht der Fall, ebensowenig wie bei Andrea Nahles, die so auch immer wieder durch die Medien geistert und mit dieser Bezeichnung, je nach politischem Gusto, auf- oder abgewertet wird. Wer sich in der SPD dann tatsächlich einmal über links zu nennende Inhalte definiert, wird dann konsequenterweise gleich als “Fundi-Linke” diffamiert.

Das alles muss Bollmann als Überzeugungstäter aber nicht interessieren. Lieber schnell die FAZ-Leser noch mit den üblichen Brocken “Hartzer Käse” füttern; wahrscheinlich glaubt der Schreiber selbst nicht daran, dass hinter dieser Zeitung auch mal ein kluger Kopf stecken könnte:

“Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie in keinem anderen großen Land der Europäischen Union, die Wirtschaft floriert, hiesige Staatsanleihen sind bei Investoren begehrt.”


So geht es munter durcheinander. Der Autor wird wissen, dass er damit prächtig vorgefertigte Meinungen bedient. Aufklärung, Hinterfragen würde da nur schaden. Warum auch den geneigten Leser unnötig verunsichern, zum Beispiel damit, dass die von der OECD für Deutschland veröffentlichten Arbeitsmarktdaten nicht berücksichtigen, dass die von privaten Arbeitsvermittlern betreuten Arbeitslosen seit dem Mai 2009 nicht mehr in der offiziellen deutschen Arbeitslosenstatistik enthalten sind; oder dass die Zahl der Teilzeit- und Minijobs deutlich zugenommen hat und ebenfalls zu einer Aufhübschung der Arbeitslosenstatistik führt. “Selbst bei gesunkenem Arbeitsvolumen kann durch die Entstehung dieser zumeist prekären Arbeitsverhältnisse offiziell eine gesunkene Arbeitslosigkeit ausgewiesen werden”, schreibt Wolfgang Lieb hierzu unter der vielsagenden Überschrift: ““. Und Ulrike Herrmann schreibt unter der nicht minder aussagekräftigen Kopfzeile ““: “Wie unvollständig die Zahlen der Bundesagentur sind, führte am Dienstag das Statistische Bundesamt vor, das die Unterbeschäftigung in Deutschland erhebt. Danach würden 8,6 Millionen Menschen zwischen 15 und 74 Jahren gern mehr arbeiten, als sie es derzeit tun. Dazu gehören nicht nur die 3,2 Millionen Erwerbslosen. Hinzu kommen 1,2 Millionen in der ´stillen Reserve´, die sich durch Fortbildungen hangeln oder keine Kinderbetreuung finden. Dann gibt es Millionen Teilzeitbeschäftigte, die am liebsten ihre Arbeitszeit aufstocken würden. Auch manche Vollzeitkraft könnte sich Überstunden vorstellen, um den Verdienst aufzubessern. Es ist nicht trivial, welche Statistik von Politik und Medien beachtet wird. Zählt man nämlich nur die offiziellen Erwerbslosen, dann steht Deutschland unter den 27 EU-Staaten sehr gut da: Zuletzt war es Platz 7, wie die Bundesagentur ausweist. Wird jedoch auch die Unterbeschäftigung berücksichtigt, landet Deutschland plötzlich weit hinten – auf Platz 20.”

Über die vermeintlich “florierende deutsche Wirtschaft” und den Hintergrund für die “begehrten deutschen Staatsanleihen” ist auf Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder ausführlich geschrieben worden. Es grenzt schon an journalistischem Schwachsinn, all diese Dinge in einem Satz durcheinanderzuwürfeln, ohne irgendeinen nachvollziehbaren Zusammenhang aufzuzeigen und nachzuweisen.

Es steht in der Tat zu befürchten, dass sich diese sinnentleerte, nicht um Fakten und Zusammenhänge scherende Meinungsmache erneut durchsetzt. Fast gewinnt man den Eindruck, dass Leitmedien wie die FAZ, nachdem das Feuilleton unter Schirrmacher etwas aus dem Reih und Glied des politischen Mainstreams ausgeschert ist, sich nun um so radikaler daran machen, ein “Bollwerk“, um zu diesem Anlass einmal einen Ausdruck aus dem ideologischen Leichenkeller zu bemühen, gegen ein soziales Europa zu errichten. Denn so, wie die Agenda 2010 aus Deutschland ein in weiten Teilen unsoziales Land gemacht hat, so wird sie auch als “Vorbild für ganz Europa” ein unsoziales Europa hervorbringen.

(1) Deutschlandfunk:

“Samstag, 04. Februar 2012 13:00 Uhr

SPD will Zugang zu Arbeitslosengeld I erleichtern

Die SPD will den Zugang zum Arbeitslosengeld Eins erleichtern. Erwerbstätige sollten künftig drei statt nur zwei Jahre Zeit haben, die Voraussetzungen für einen Anspruch zu erfüllen, sagte Fraktionsvize Heil der Nachrichtenagentur Reuters. Kommende Woche werde dazu ein Antrag in den Bundestag eingebracht. Die SPD-Arbeitsmarktpolitikerin Kramme verwies in der Zeitung “Die Welt” darauf, dass immer mehr Arbeitnehmer nur noch befristet beschäftigt seien. Jeder vierte Arbeitslose falle heute direkt in Hartz Vier. – Derzeit gibt es Arbeitslosengeld Eins, wenn man in den zurückliegenden zwei Jahren mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.”

(Quelle: http://www.dradio.de/nachrichten/201202041300/4)


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