Wenn eine sich Christlich Demokratische Union nennende Partei und eine sich Christlich Soziale Union nennende Partei gemeinsam eine Politik der Schuld und Sühne predigen und ganz Europa oktroyieren, macht es zunächst einmal Sinn, sich der Bedeutung des Christlichen zu versichern.
Der bekannte Theologe Eugen Drewermann hat das Christliche einmal versucht, in einem Satz auszudrücken: “Sich für das Leben und die Lebensmöglichkeit eines jeden Einzelnen einzusetzen ist christlich, nicht aber das Leiden zu predigen und den Masochismus heilig zu sprechen.” (1)
Wenn das Christentum denn jemals dieser, auch für einen nicht oder anders Gläubigen, im Sinne einer für das menschliche Miteinander und den gesellschaftlichen Zusammenhalt als sozial wünschenswert empfundenen Vorstellung gedient hat, CDU/CSU tun dies mit Sicherheit nicht. Sie haben den in ihrem Namen noch fortlebenden Glauben längst auf dem Altar eines neuen Gottes geopfert. Als hätte Drewermann mit seinem Satz beabsichtigt, zwischen zwei möglichen Politikansätzen zu unterscheiden, verhält es sich tatsächlich so, dass sich die herrschende Politik längst nicht mehr für das Leben und die Lebensmöglichkeit eines jeden Einzelnen einsetzt, sondern dazu übergegangen ist, das Leiden zu predigen und den Masochismus heilig zu sprechen. Lohnverzicht, Rentenkürzungen, die Schaffung eines Niedriglohnsektors, die Privatisierung oder Teilprivatisierung ehemals als selbstverständlich begriffener öffentlicher Aufgaben, all das hat die Lebensmöglichkeit eines jeden Einzelnen zum Spielball persönlicher und familiärer Einkommens- und Vermögensverhältnisse gemacht und millionenfaches Leid über die Menschen gebracht. Eine wesentliche Form dieses Leids ist die weitverbreitete Angst um die eigene Existenz. Und das in einem der reichsten Industrieländer der Welt.
An anderer Stelle schreibt Drewermann hierzu: “Der andere wächst im Zirkel der Angst immer mehr in seiner projizierten Allmacht, man selbst aber fließt darin immer mehr aus und wird immer blutleerer. Man weiß genau, dass alle Menschengötter sich aus Angst in wahre Vampire verwandeln müssen, und trotzdem wird im Umkreis solcher Angst- und Ohnmachtsgefühle jeder Gedanke nur noch in die eine Richtung gelenkt werden, wie man den selbsternannten Gottheiten ringsum noch besser dienen und die Ketten des eigenen Gefängnisses noch fester Schmieden kann. Die Welt, in der wir unmittelbar leben, ist eine Welt solcher ständigen Selbstentwertungen und Selbsterniedrigungen, eine Welt unmenschlicher Götzendienerei unter dem Druck einer unablässigen Angst; unmittelbar werden wir von dem Gefühl beherrscht, nur das zu sein, was andere mit ihren Weisungen und Befehlen in uns hineingelegt haben. Wesentlich ist für uns in der Angst stets nur die Zustimmung des anderen; was er uns sagt, ist unser Wesen.”
Drewermann hat dies ursprünglich 2006 geschrieben. Da war von Eurokrise noch nicht die Rede. Aber wer würde in diesen Sätzen nicht den Hartz IV-Empfänger wiedererkennen, den im Aufstieg gebremsten oder vom Abstieg bedrohten Arbeitnehmer, den in Altersarmut vom gesellschaftlichem Leben ausgeschlossenen Rentner – und jetzt die Griechen, Portugiesen, Spanier und Italiener.
Wie sollte es auch anders sein, jetzt, wo der parteiübergreifende Glauben in der deutschen Politik, dass gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt und Stabilität über Leiden und Masochismus zu haben sind, ganz Europa erobert. In Richtung Frankreich hat das gerade erst der CDU-Politiker und Vorsitzende der deutsch-französischen Parlamentariergruppe, Andreas Schockenhoff, auf den Punkt gebracht: “Deutschland ist sozusagen die Projektionsfläche. 2003 hat Gerhard Schröder mit einer Reform der Arbeitsmarktgesetze, mit den Hartz-Gesetzen begonnen. Das wurde in der Großen Koalition und jetzt in der christlich-liberalen Koalition fortgesetzt.”
Deutschland als “Projektionsfläche” für Frankreich, das Land, das sich, anders als Deutschland, über all die Jahre der Europäischen Währungsunion an das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank gehalten hat, weil es seine Lohnentwicklung an der Produktivität plus dem Inflationsziel ausrichtete. Nicht der Musterschüler aber bestimmt die Richtung Europas, sondern der ökonomische und soziale Halsabschneider Deutschland. Es gilt wieder einmal das Recht des Stärkeren. Wie er zu seiner Stärke gefunden und welche sozialen Verwüstungen er hinterlassen hat, interessiert ihn nicht. Die Form der Machtausübung hat sich geändert. Heute werden mit politischen Geschützen mühselig aufgebaute soziale Schutzmauern geschliffen und der zivilisatorische Fortschritt zu Grabe getragen. Auch das bringt Schockenhoff in aller Offenheit zum Ausdruck. Die Moderatorin weißt ihn darauf hin, dass Sarkozy in Frankreich doch bereits sehr unpopuläre Entscheidungen getroffen habe: “Gerade die Rente 62 hat für große Proteste gesorgt.” Der Christdemokrat Schockenhoff zeigt sich davon völlig unbeeindruckt: “Ja, und deswegen sagt er, schaut her, in Deutschland haben eben drei verschiedene Regierungen – eine rot-grüne Regierung, eine Große Koalition und eine christlich-liberale Regierung – mit einem relativen Grundkonsens in die gleiche Richtung gearbeitet. Und deshalb ist Deutschland heute wesentlich erfolgreicher, hat über drei Prozent Wachstum und Frankreich weniger als ein Prozent. Also müsst ihr euch entscheiden, ob ihr die Medizin schluckt, um dann hinterher wirklich stärker zu sein, oder ob ihr glaubt, mit alten Methoden zurückzufallen. Es ist neu in der französischen Politik, dass Sarkozy seinem Land eine so klare Richtungsentscheidung abverlangt.”
Schockenhoffs christlich sozialer Kollege, der CSU-Europapolitiker, Markus Ferber, gibt sich nicht weniger unnachsichtig: “Wenn Sie allein das Privatisierungsprogramm sich anschauen, wo gegenüber dem Internationalen Währungsfonds Verpflichtungen eingegangen wurden, das sich jetzt als nicht haltbar herausstellt, wenn Sie sich anschauen, wie die Steuereintreibung nach wie vor den Vorgaben hinterherhinkt, die sich das Finanzministerium selber gesetzt hat, dann sehen Sie nur an diesen zwei Stellen, dass Parlamentsbeschlüsse und Briefe der Parteivorsitzenden alleine nicht ausreichen, um in diesem Land Strukturen zu verändern.” Und: “Jetzt müssen wirklich die Griechen liefern.”
Dass aufgrund der Spardiktate Griechenland und andere Länder immer tiefer in die Depression geraten, millionen Menschen verzweifeln, ob der Aussichtslosigkeit, all das interessiert die Christdemokraten und Christsozialen nicht. Ja, da wird schon einmal Verständnis geheuchelt – man kann ja nie wissen, wo das alles endet. Von der Gnadenlosigkeit der politischen Forderungen aber wird nicht abgerückt. Das Elend und die Not werden billigend in Kauf genommen.
Längst ist Europa in Misstrauen und gegenseitigen Schuldzuweisungen erstarrt und vergiftet. Von den deutschen Oppositionsparteien, den Gewerkschaften, Sozialverbänden, auch den Kirchen, ist praktisch nichts zu hören. Und was sollte auch zu hören sein, wenn nicht ein Aufschrei. Ein wirklicher Aufschrei – gegen den deutschen Masochismus und das Diktat des ökonomisch Stärkeren, der mit seinen menschenfeindlichen “Reformen” die anderen doch erst schwach gemacht hat, und ein Aufschrei für ein menschliches, solidarisches Europa.
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(1) Eugen Drewermann, Heilende Religion, Überwindung der Angst, Freiburg, 3. Auflage 2009
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