Die soziale Frage und die mit ihr in Zusammenhang stehende politische Verantwortung werden bei der Behandlung von Rechtsextremismus regelmäßig übergangen. Wolfgang Thierse ist hierfür ein trauriges Beispiel.
Mich hatte es schon gewundert, dass Wolfgang Thierse das Buch “Deutsche Zustände” im Dezember vergangenen Jahres auf der Bundespressekonferenz mit vorstellte. Ich meine mich zu erinnern, dass er bei seiner Kommentierung der “Deutschen Zustände” das Wort “Solidarität” besonders häufig in den Mund nahm – so häufig, dass ich mich am Ende ärgerte, nicht mitgezählt zu haben.
Dass in dem Buch die von SPD und GRÜNEN entwickelten Hartz IV-Reformen als ein zentraler Bestandteil einer menschenfeindlichen Entsolidarisierung der Gesellschaft thematisiert werden, war Thierse aber keine Erwähnung wert. Zeit und Raum, dies zu tun, waren praktisch unbegrenzt vorhanden.
“Insbesondere in bezug auf Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger plädiert man für Leistungskürzungen. Im Sinne des Kapitals und im Einklang mit dem ökonomistischen Denken werden diese Menschen als nutzlos etikettiert”, schreibt Heitmeyer schon in seinem einleitenden Kapitel der “Deutschen Zustände”. Und: “Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zur neuen Normalität geworden.”
Anlässlich des Staatsaktes zum Gedenken an die Opfer der Neonazi-Morde nahm Thierse erneut Stellung, diesmal in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Dabei versäumt Thierse es erneut, auf die sozialen Zustände einzugehen, die er und seine Partei im Einvernehmen mit den GRÜNEN, CDU/CSU und der FDP durch ihre Gesetzgebung geschaffen haben. Er konzentriert sich auf die von “Rechtsextremen geschaffenen Angsträume” und benennt sechs Punkte, mit denen diese “vor Ort bekämpft werden” müssten. Thierse beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf verbesserte Rahmenbedingungen für Projekte und Initiativen gegen Rechts. So fordert er eine “Verstetigung der Projektförderung” und “die Stärkung der Mobilen Beratungsteams”. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden. Im Gegenteil, all das ist in jedem Fall unterstützenswert.
Nur: Warum mahnt ein Mitglied und sogar Vizepräsident des Deutschen Bundestages lediglich den Rechtsextremismus “vor Ort” zu bekämpfen und thematisiert wider besseren Wissens nicht die sozialen Zustände, die “Angsträume”, die mit den Gesetzgebungen bei ihm “vor Ort”, im Deutschen Bundestag, im Zusammenhang stehen, und mit den Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bilden? So vermitteln es zumindest die von ihm selbst vorgestellten “Deutschen Zustände”.
Gunter Hofmann schreibt in den “Deutschen Zuständen”:
“Die Gesellschaft selbst geriet der Politik zunehmend aus dem Blick. Wenn immer mehr Menschen – jung oder alt, mit oder ohne `Migrationshintergrund´, Langzeitsarbeitslose, alleinstehende Mutter – ausgegrenzt werden oder von der untersten Sprosse der Leiter herabfielen, dann hing dieser Rückschritt zur Klassengesellschaft mit der herrschenden Politik zusammen.”
Für diese Politik zeichnet Thierse als aktiver Bundestagsabgeordneter in Regierungsverantwortung und in hohen Positionen in Partei und Fraktion maßgeblich mit verantwortlich. Er stellt sie bis heute nicht in Frage. Er spricht sie nicht einmal an, er thematisiert sie nicht einmal, obwohl ihn ein Buch wie die “Deutschen Zustände” mit der Nase drauf stößt, und er dieses Buch auch noch der Öffentlichkeit vorstellt.
Der Herausgeber der Deutschen Zustände, Wilhelm Heitmeyer, und die Autoren Jürgen Mansel und Oliver Christ ziehen in ihrer Untersuchung über den “Effekt von Prekarisierung auf fremdenfeindliche Einstellungen” das Fazit:
“Insgesamt lässt sich aus der Analyse schließen, dass in einer Gesellschaft mit einer zunehmenden Zahl von Personen in prekären Beschäftigungsverhältnissen das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit steigen und sich somit die Qualität der Beziehungen zwischen Teilgruppen der Gesellschaft verschlechtern wird. Gelingt es hingegen, für zunehmend mehr Personen gesicherte berufliche Positionen zu eröffnen, so gibt dies Anlass zur Hoffnung, dass nicht nur die Betroffenen ihre Zukunft etwas ´rosiger´ sehen, sondern dass sich darüber hinaus das gesellschaftliche Klima insgesamt wieder etwas menschenfreundlicher gestaltet.”
Die Gesetzgebungen für “gesicherte berufliche Positionen” werden aber auf Bundesebene, “vor Ort” bei Wolfgang Thierse also, geschaffen – genauso, wie die “prekären Beschäftigungsverhältnisse” von ihm als Gesetzgeber mit geschaffen wurden.
Als sechsten Punkt, der nach Thierse zügig umzusetzen wäre, nennt er schließlich:
“Wir brauchen eine kontinuierliche wissenschaftliche Berichterstattung über rechtsextreme Einstellungen und Aktivitäten in Deutschland, wie sie der Deutsche Bundestag 2008 für den Bereich des Antisemitismus bereits initiiert hat.”
Wer wollte ihm da widersprechen. Dort, wo es ihm passend erscheint, gelingt es ihm dazu noch, auf die Gesetzgebungen auf Bundesebene zu verweisen. Was aber helfen noch so fundierte Berichterstattungen, wie es die “Deutschen Zustände” unter der Ägide Heitmeyers zweifellos sind bzw. waren, wenn die handelnden politisch Verantwortlichen sie nur äußerst selektiv, nach eigenem parteipolitischen Gusto bzw. mit äußerst begrenztem Problembewusstsein thematisieren.
Dazu passt in meinen Augen auch, dass nirgendwo zu lesen war, dass Thierse die Generalsekretärin seiner Partei, Andrea Nahles, zur Ordnung gerufen hat, als diese der Kanzlerin vorwarf, nicht nach Griechenland zu reisen, um ihren konservativen Kollegen Antonis Samaras “einmal die Meinung zu sagen.” “Schließlich präsentiere sich ihr Parteifreund als ´Hauptblockierer´ der notwendigen Strukturreformen im Land und lasse sich ´in keine Kabinettsdisziplin einbinden”, so Nahles in ihrem Versuch, die ihr offensichtlich in Fleisch und Blut übergegangene, menschenfeindliche Hartz-IV- und Agenda 2010-Rhetorik auf Griechenland anzuwenden.
“Ideologisch war dieses Jahrzehnt geradezu geprägt von einer Revolution des Normativen. Genauer: die Maßstäbe und Kriterien, an Hand deren gesellschaftliche Entwicklungen beobachtet werden, sind verlorengegangen”, schreibt Gunter Hofmann in den “Deutschen Zuständen”.
Das scheint mir immer noch der Fall zu sein. Solange die Politik sich nicht bemüßigt fühlt, ihre eigenen Fehlentwicklungen anzusprechen, die mit für ein fremdenfeindliches Klima und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verantwortlich zeichnen, trägt sie nicht zur Lösung dieser alarmierenden gesellschaftlichen Zustände bei, sondern ist Teil des Problems. “Doch wenn Wissenschaftler ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen wollen, gibt es oft keine Alternative: Dann müssen sie stören“, stellt Heitmeyer in seiner “Bilanz nach zehn Jahren” in den “Deutschen Zuständen” fest. Das gilt umso mehr für Politiker. Sie müssen nicht nur stören, sie müssen sich auch stören lassen.
Anmerkung vom 28.02.2012: Siehe jetzt auch Wilhelm Heitmeyer aktuell in der . Heitmeyer: “Dann gibt es natürlich bei uns als Signalereignis die Situation von 2005, mit der Einführung von Hartz IV. Das hatte zur Folge, dass neben den unteren sozialen Lagen plötzlich auch die mittleren sozialen Lagen unter Druck gerieten. Dass sich auch in die die Angst einfräste, sozusagen. Und daraus entstanden dann auch wieder bestimmte Abwertungsmuster…” Quelle:
Außerdem: Ein Leserbrief von Prof. Dr. Fritz Vilmar zu meinem Artikel ist hier zu lesen: 28.02.2012
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