Alltag im Regierungsviertel: Bundespräsidentenwahl

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Ich sitze vor dem Zimt & Zucker, ein Kaffeehaus am Schiffbauerdamm. Der Bundespräsident ist gewählt. Ich denke, jetzt wollen wir doch mal sehen, ob ich sie nicht erkenne, die Wahlfrauen und Wahlmänner; oder ob sie wirklich so sehr aus dem Volke sind, dass man sie gar nicht vom gemeinen Bürger unterscheiden kann.

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Das Zimt & Zucker liegt zehn Minuten fußläufig vom Bundestag. Wie ein geübter Jäger bin ich mir sicher: hier müssen sie entlang; hier müssen sie uns kreuzen; die jedenfalls, die nicht gleich in den schwarzen Limousinen des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages die Heimreise angetreten haben, die an diesem Tag wie in den Sitzungswochen des Deutschen Bundestages die Straßen in Berlin-Mitte bevölkern. Ich habe mir einen Latte Macchiato bestellt und mache es mir auf meiner Bank bequem; ein bisschen fühle ich mich wirklich wie ein Jäger, der auf seinem Hochsitz Platz genommen hat; ich lese weiter im Caspar Hauser.

Ah, da kommt der erste; ich erkenne ihn; es ist Garrelt Duin, der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion; ich habe ihn ehrlich gesagt noch nichts Kompetentes über Wirtschaftspolitik sagen hören; aber da er damit im Deutschen Bundestag fürwahr kein Außenseiter ist, fühlt er sich bestimmt zu Hause im hohen Hause – in dem, frei nach Wehner, nichts hoch ist, außer die Decke. Er trägt eine feine Bügelfaltenhose, oben herum einen nicht minder feinen Trench; konservativ, hoch gewachsen, aufrechter Gang, selbstbewusst; der Niedergang der SPD in der Wählergunst hat ihm offensichtlich nichts anhaben können. Schon vorbei. Er hat seine potenziellen Wähler keines Blickes gewürdigt. Einfach so vorbeigegangen. Sie ihn allerdings auch nicht, soweit ich die Situation überschauen konnte. Eine Momentaufnahme.

Im Verlauf der nächsten halben Stunde kommen noch einige aufgetakelte Personen vorbei. Theaterpublikum – wenn es nicht Nachmittag wäre. Ich denke nicht, dass im benachbarten Berliner Ensemble um diese Zeit eine Aufführung läuft. Nein, diese kommen gerade von einer Vorstellung aus dem großen Theater unter der großen Zirkuskuppel am gegenüberliegenden Ufer der Spree. Na, na, na, wenn Sie jetzt meinen, aus meinen vielleicht allzu unbedacht gewählten Worten eine gewisse Politikverdrossenheit herauszulesen, dann irren Sie; ich bin allenfalls etwas müde des Theaters dort.

Bevor ich zum Zimt & Zucker aufgebrochen bin, habe ich im Deutschlandfunk die kurze Rede Joachim Gaucks als frisch gewählten Bundespräsidenten gehört. Ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen, wie oft er das Wort Freiheit ausgesprochen hat. Umso häufiger er auf diesen Begriff abstellte, desto mehr erschien er mir als Gefangener, als Gefangener seiner eigenen persönlichen Vergangenheit. Als ich später das Titelfoto auf der Süddeutschen online mit ihm sehe, der lippenlose, nach unten gezogenen Mund, die geschlossenen Augen, da erscheint er mir noch weniger frei; ich sehe jemanden vor mir, der tiefen Schmerz empfindet, empfunden hat, unverarbeiteter Schmerz, und deswegen kein freier Mensch ist, nicht frei von Schmerz jedenfalls. Würde ich mich ihm anvertrauen, kam es mir spontan in den Sinn. Nein, mit Sicherheit nicht. Seine ganze Erscheinung erlaubte überhaupt nur die gegenteilige Vorstellung; natürlich würde ich ihm zuhören, wenn er mir seine Geschichte erzählen würde. Aber das, da bin ich mir sicher, würde sicherlich viel Zeit erfordern.

Doch zurück zum Zimt & Zucker. Das Kaffeehaus ruht wieder in sich. Eine halbe Stunde ist vielleicht vergangen, und die seltsam kostümiert wirkenden, sich so auffällig von den um mich herum sitzenden Gestalten abhebenden, um nicht zu sagen abgehobenen Gestalten, sind vorübergezogen, wie Schauspieler, die sich in der Bühne geirrt haben, versehentlich auf der Bühne des Leben gelandet und, darüber erschrocken, schnell weiter gezogen sind. Verhuscht, ja, irgendwie verhuscht haben sie auf mich gewirkt. Frei schwebend. Jetzt ruht wieder alles in sich; Menschen aus aller Herren Länder sitzen um mich herum; aber fremd, wirklich fremd haben nur die kostümierten Wahlfrauen und -männer auf mich gewirkt; wie aus einer anderen Welt. Wir haben einen neuen Bundespräsidenten. Ich bin mir – bei aller Fremdheit gegenüber dessen Gestus – sicher: er wird durchhalten – und, wie immer, lasse ich mich, um so skeptischer ich bin, gern positiv überraschen.


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