Es ist wie im Theater. Wulff tritt ab und Gauck auf die Bühne. Eben wurde noch gepfiffen, jetzt wird bereits wieder geklatscht. Es gab keine Pause im Stück. Doch sie wäre nötig gewesen. Sie hätte für die nötige Nachdenklichkeit gesorgt. Nicht die gegen ihn erhobenen Vorwürfe haben Wulff aus dem Amt gebracht, nicht sein kalkulatorisches Verhältnis zur Wahrheit. Es waren deutsche Staatsanwälte, die ihn zum Rücktritt zwangen. Sie hatten ein Ermittlungsverfahren angekündigt.
Mehr war allerdings nicht geschehen. Keine Anklage war bei Gericht eingereicht. Kein Richter hatte sich mit dem Fall Wulff befasst. Kein rechtskräftiges Urteil war gefällt. Doch sofort nach der Einleitung des Ermittlungsverfahrens fanden SPD und Grüne nach langem Zaudern den plötzlichen Mut, Wulff zum Rücktritt aufzufordern. Auch die Kanzlerin entzog ihm nunmehr die bis dahin gewährte Rückendeckung. Damit war das Schicksal von Wulf besiegelt.
Über das politische Schicksal eines Bundespräsidenten entscheidet nach der Verfassung das Bundesverfassungsgericht am Ende eines komplizierten Verfahrens – der Präsidentenanklage. Demgegenüber sind die Voraussetzungen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sehr gering. Es reichen hierfür schon “zureichende tatsächliche Anhaltspunkte” aus. Deswegen enden die meisten Verfahren (70%) auch mit einer Einstellung. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens hat also keinen Prognosewert für dessen Ausgang. Aus diesem Grund gibt es im Strafrecht die Unschuldsvermutung. Sie gilt selbstverständlich auch für einen ethisch ungeübten Menschen wie Christian Wulff. Die Unschuldsvermutung soll dafür sorgen, dass allein der Verdacht, ein Mensch habe sich strafbar gemacht, weder dessen Karriere (z.B. vorzeitiger Verlust eines Amtes) noch dessen Ruf beschädigt. Es handelt sich um ein Menschenrecht und einen zentralen Grundsatz unseres Rechtsstaates. Im politischen Leben ist dieser Grundsatz jedoch außer Kraft gesetzt. An seiner Stelle fest verwurzelt ist das verfassungsfremde Ritual der Vorverurteilung mit Rücktrittspflicht. Es ist ein sehr komplexes Ritual.
Zunächst basiert es auf Heuchelei. Sie liegt in der Vorstellung, dass Politiker derart tadellos durch ihr Leben gehen, dass sie nicht einmal in den Verdacht einer Straftat geraten. Ist dies aber doch der Fall, verlangt das Ritual ihren sofortigen Rücktritt.
Die Heuchelei hat noch eine Kehrseite. Sie ist der organisierte Verfassungsbruch. Da das Ritual im Falle von Ermittlungen den sofortigen Rücktritt verlangt, haben die Staatsanwälte ausgeprägte Hemmungen, diesen auch herbeizuführen. Jeder “Ermittlungsschuss” wäre sofort ein “Rücktrittstreffer”. Damit wird jedoch der Grundsatz der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz verletzt, wenn es um Politiker geht.
Das Ritual ist wirklich komplex. Denn es ernährt sich sogar aus sich selbst. Weil Ermittlungen selten sind, löst ihre Einleitung den sofortigen Rücktritt aus. Weil der sofortige Rücktritt ein empfindliches Übel ist, bleiben Ermittlungen selten. Das ist das Ritual. Es ist surreal. Es passt in das moderne Theater, aber nicht in den demokratischen Verfassungsstaat.
Wir benötigen eine Realität, in der Staatsanwälte gegen Politiker genauso konsequent ermitteln wie gegen jeden anderen Bürger. Erstens würde dadurch der Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht gewahrt. Zweitens würde die Demokratie gestärkt, weil die Bürger die tatsächliche Strafrechtstreue der Politiker erfahren und bewerten könnten. Drittens käme die Unschuldsvermutung zur vollen Geltung, weil Politiker nicht mehr schon im reinen Verdachtsstadium ihre Posten räumen müssten.
Wolfgang Neskovic sitzt seit 2005 für die DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Er ist Bundesrichter a.D. und Justiziar der Bundestagsfraktion. Wolfgang Neskovic ist Vorsitzender des Wahlausschusses für die Richter des Bundesverfassungsgerichts und Mitglied im Ausschuss für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium.
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