Hände weg von der Tarifautonomie! – Ein Gastbeitrag von Ursula Engelen-Kefer

Ursula Engelen-Kefer

Es ist wie das sagenumwobene „Ungeheuer von Loch Ness“: Seit das Bundesarbeitsgericht die Tarifeinheit, und damit das Prinzip ein Betrieb eine Gewerkschaft, in seinem Urteil vom 23.6. 2010 aufgehoben hat, wird in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen nach dem Gesetzgeber gerufen: Die Tarifeinheit soll wieder hergestellt und damit die Zersplitterung der Tarifpolitik verhindert werden. Dabei gibt es wechselnde Allianzen zwischen Arbeitgeberverbänden sowie einem Teil der Gewerkschaften und der Politik.

Gleichgewicht zwischen Tarifautonomie und Tarifeinheit

Es geht um eine schwierige Balance: Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 9 (3) die Freiheit zur Bildung von Gewerkschaften für alle Berufe und ihrer Tarifpolitik einschließlich der Durchsetzung mit Arbeitskampfmaßnahmen. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass die tarifpolitischen Erfolge einzelner Berufsgruppen nicht zu Nachteilen anderer Beschäftigter führen.

Die üblichen Argumente gegen die Spartengewerkschaften ziehen nicht: Dass mit wenigen Beschäftigten in Schlüsselfunktionen ganze Wirtschaftsbereiche empfindlich getroffen werden können, ist kein Spezifikum von Spartengewerkschaften, sondern durchaus auch Arbeitskampfstrategie der „Großen“. Auch haben Anzahl und Streiks von Spartengewerkschaften keinesfalls expandiert, so dass um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in der Bundesrepublik gefürchtet werden müsste. Im Gegenteil: Die Finanz- und Wirtschaftskrisen in der Europäischen Union weisen auf erhebliche Defizite in der Bundesrepublik bei der Entwicklung von Löhnen und Binnenkonjunktur.

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Diese unterschiedlichen Positionen wurden auch in den Beiträgen der aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 7. März „Tarifeinheit sicherstellen- Tarifzersplitterung vermeiden“ deutlich. Dabei setzt sich ausgerechnet die SPD, die diese aktuelle Stunde beantragt hatte, massiv für eine gesetzliche Regelung ein und unterstützt die lauten Rufe der Arbeitgeber nach Reglementierung der Tarifpolitik. CDU/CSU und Grüne mahnen zur Besonnenheit und empfehlen die Ausschöpfung  aller Möglichkeiten im Vorfeld derartiger Gesetzgebung – insbesondere bei der Zusammenarbeit konkurrierender Gewerkschaften in der Tarifpolitik. Die Partei Die Linke lehnt jegliche Gesetzgebung zur Tarifeinheit scharf ab.

Aushöhlung der Tarifautonomie beenden

Allen Beteiligten ist zu raten, die Hände von einer Gesetzgebung zu lassen, die den Grundsatz der Tarifautonomie im Grundgesetz beschädigt. Die Freiheit der Bildung von Vereinigungen und damit natürlich auch Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie der Tarifautonomiemithin der freien Aushandlung von Tarifbedingungen durch die jeweiligen Verbände frei von jeglicher Einflussnahme insbesondere des Staates – sind wesentliche Eckpfeiler jeglicher Demokratie. Wir haben allen Grund, nicht daran zu rütteln.

Gesetzesinitiativen sind allerdings dringend geboten, um die Aushöhlung der Tarifautonomie durch Lohndumping und die Explosion von Niedriglohnsektoren sowie Armut bei Arbeit und im Alter wirksam zu bekämpfen. Dies sind bei weitem größere und gefährlichere Angriffe auf die Tarifautonomie als die Arbeitskampfmaßnahmen von Spartengewerkschaften zur Durchsetzung von Tarifforderungen für ihre jeweiligen Beschäftigten.

Spartengewerkschaften auf dem Vormarsch

Anlass für diesen Vorstoß einer Gesetzesinitiative zur Tarifeinheit in der Bundesrepublik sind die vielbeachteten Streikaktionen kleiner Spartengewerkschaften. In jüngerer Vergangenheit waren es der Marburger Bund, die Vereinigung Cockpit, die Gewerkschaft der Lokführer oder jetzt die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF). Allen Fällen gemeinsam ist die spürbare Beeinträchtigung öffentlicher Dienstleistungen im Verkehrs- oder Gesundheitsbereich durch kleinere Berufsgruppen mit Schlüsselpositionen. Damit haben die Spartengewerkschaften nicht nur viel öffentliche Aufmerksamkeit erzielt, sondern auch gute Ergebnisse für  die bei ihnen organisierten Beschäftigten durchsetzen können.

Die auf einzelne Berufsbereiche ausgerichteten Spartengewerkschaften sind in den letzten Jahren aus der Tarifpolitik der erheblich größeren Gewerkschaften – Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi ) und  der Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft (EVG), ehemals Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschland (GdED –Transnet) – ausgeschert, da sie mit deren Interessenvertretung nicht zufrieden waren. Letztendlich üben die Spartengewerkschaften mit ihren Arbeitskampfmaßnahmen auch Druck auf die großen Gewerkschaften Verdi und EVG bei ihren Tarifverhandlungen für die übrigen Beschäftigten aus.

GdF: David verliert gegen Goliath

Jetzt hat die Gewerkschaft für Flugsicherung (GdF) mit ihren tagelangen Streiks der Vorfeld-Flughafenarbeiter für erneute Aufregung gesorgt. Mit Streikaktionen von 200 der insgesamt bei der Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens „Fraport“ beschäftigten 19 000 Beschäftigten hat sie über mehrere Tage den Flugverkehr erheblich beeinträchtigt. Fraport war allerdings in der Lage, mit Hilfe kurzfristig angelernter Mitarbeiter den überwiegenden Teil der Flüge durchzuführen. Trotzdem sind die betriebs- und volkswirtschaftlichen Schäden erheblich. Mit ihren Forderungen nach Lohnsteigerungen zwischen 30 und 47 Prozent stieß die GdF auf den erbitterten Widerstand von Fraport. Dessen zuständiger Vorstand und Arbeitsdirektor, Herbert Mai, kennt die gewerkschaftliche Tarifpolitik besonders gut. Er war Vorsitzender der damaligen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr  (ÖTV) und an dem Gründungsprozeß von Verdi im Jahr 2000 maßgeblich beteiligt.

Die GdF machte in dieser Tarifauseinandersetzung geltend, dass  sie der von Fraport beabsichtigten Ausgliederung der  „Vorfeld“ Beschäftigten in eine eigene GmbH zugestimmt hat. Dies kann für die betroffenen Arbeitnehmer erhebliche Risiken bei Arbeitsplatzsicherheit, Löhnen und Arbeitsbedingungen bedeuten und müsse durch entsprechende Lohn- und Gehaltssteigerungen ausgeglichen werden.

Dabei konnte sie sich auf einen Schlichterspruch des früheren Ersten Bürgermeisters von Hamburg, Ole van Beust, berufen, wobei ihre Lohnforderungen weitgehend unterstützt wurden. Allerdings hat Fraport diesen Schlichterspruch nicht akzeptiert, mit der Begründung, dass damit ihr gesamtes Tarifgefüge durchbrochen würde. Nachdem die GdF ihre Streiks auf die Fluglotsen ausweiten wollte, um den Flugverkehr härter zu treffen, hat Fraport über eine Klage beim Arbeitsgericht den Abbruch der Streiks als „unverhältnismäßig“ erwirkt. Der GdF drohen empfindliche Schadenersatzansprüche von Fraport aus den Verlusten durch die Streiks.

Arbeitgeber rufen nach dem Gesetzgeber

Wenn jetzt Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen eine gesetzliche Initiative zur Wiederherstellung der Tarifeinheit  ankündigt, kann sie sich auf gute „Vorfeldarbeit“ beider Tarifparteien stützen. DGB und BDA haben nach Kenntnis der Aufhebung der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht  Mitte 2010 in einem gemeinsamen Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich zu regeln. Die Tarifeinheit sei eine unverzichtbare Säule der Tarifautonomie. „Sie verhindert eine Zersplitterung des Tarifvertragssystems, eine Spaltung der Belegschaften und eine Vervielfachung kollektiver Konflikte.“ Allerdings hat sich der DGB inzwischen von dieser gemeinsamen Gesetzesinitiative verabschiedet. Dafür sind die Rufe der BDA nach dem Gesetzgeber umso lauter zu vernehmen.

Wenn die Arbeitgeber die Wiederherstellung der Tarifeinheit durch den Gesetzgeber so heftig anmahnen, ist zu fragen, warum sie es zulassen, dass die Tarifautonomie in ihren eigenen Reihen immer mehr aufgeweicht wird. Warum sind sie beispielsweise nicht rechtzeitig dagegen angegangen, dass immer mehr Arbeitgeber aus Tarifverbänden austreten oder sich erst gar nicht organisieren und somit der Tarifpolitik vollständig entziehen. Warum gehen sie nicht entschieden gegen Verbandsgründungen zu Zwecken des Lohndumpings vor, wie z.B. der christlichen Gewerkschaften zum Lohndumping bei Leiharbeit oder der privaten Postdienstleister zur Unterwanderung des Mindestlohntarifvertrages von Verdi mit der Post AG.

Nicht von der Hand zu weisen ist der Eindruck einer gewissen Doppelmoral: Aktive Beteiligung  bei oder zumindest Zulassung  der Neugründung von Arbeitgeberverbänden und Verhandlung mit konkurrierenden Gewerkschaften über Dumping Bedingungen einerseits und das große „Jammern“, wenn der Schuss nach hinten los geht und die Tarifkonkurrenz neu gegründeter Gewerkschaften zu mehr Druck, mehr Streiks und besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen führt.

ILO Grundsatz der Repräsentativität

Allerdings können auch die Arbeitnehmer und Gewerkschaften nicht an einer Atomisierung der Gewerkschaftslandschaft und ständigen Arbeitskämpfen interessiert sein. Deshalb muss die vom BAG zugelassene Tarifkonkurrenz in verantwortbare Bahnen geführt werden. Dabei sollte der Grundsatz der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in seinen grundlegenden Arbeitsnormen zur Vereinigungs- und Tarifvertragsfreiheit genutzt werden, der auch in unserem Grundgesetz verankert ist. Danach hat bei konkurrierenden Gewerkschaften immer der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft Vorrang, die am meisten repräsentativ für den jeweiligen Berufsbereich ist, mithin die meisten Mitglieder hat. Dafür gibt es in jahrzehntelanger nationaler und internationaler Rechtsprechung bis ins letzte Detail und an der Praxis orientierte Leitlinien, die den rechten Weg zur Feststellung der Repräsentativität weisen. Verhindert werden muss und kann damit sowohl eine Zersplitterung der Arbeitsbeziehungen und Arbeitskonflikte, wie auch Lohn- und Sozialdumping – ohne den Grundsatz der Vereinigungsfreiheit in Frage zu stellen. Dies kann auch auf dem Wege der Rechtsprechung durchgesetzt werden. Eine Gesetzesinitiative ist dafür keinesfalls zwingend.

Dr. Ursula Engelen-Kefer war von 1990 bis 2006 stellvertretende DGB-Vorsitzende und von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der damaligen Bundesanstalt für Arbeit. Von 1980 bis 1984 leitete sie die Abteilung Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Internationalen Sozialpolitik beim DGB. Heute arbeitet sie als Publizistin in Berlin (www.engelen-kefer.de).


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