Warum verlangt in Deutschland keine Partei 75 Prozent Spitzensteuersatz?


VW-Chef Winterkorn kassiert 17 Millionen Euro, kursiert es – ohne Anstoß daran zu nehmen – durch die Medien. In einem Jahr! Vor dem Hintergrund solcher Irrsinnsverdienste stellt sich die Frage: Was ist eigentlich so sensationell an einem Spitzensteuersatz von 75 Prozent und warum fordert ihn keine Partei in Deutschland?

Haben sich seit den 1990er Jahren die Einkommen in Deutschland doch dramatisch auseinanderentwickelt. Die konservative Denkfabrik der Industriestaaten, OECD, hat nachgewiesen, dass die Einkommensungleichheit in Deutschland seit 1990 weit stärker gewachsen ist als in den meisten anderen Industriestaaten. Deutschland steht dabei auch schlechter da als das Nachbarland Frankreich, wo der sozialistische Präsidentschaftskandidat, Francois Hollande, im laufenden Wahlkampf einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent gefordert hat – eine Forderung, die vielleicht hierzulande für mehr Aufregung gesorgt hat als in Frankreich selbst.

Warum bloß springen ihm die deutschen Sozialdemokraten nicht zur Seite, wo die Einkommen in Deutschland doch noch ungleicher verteilt sind als in Frankreich? Vielleicht, weil die deutsche Sozialdemokratie schon einen Spitzensteuersatz von über 49 Prozent für “nicht vermittelbar” hält. “Wir müssen überlegen, wie denn ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent zu vermitteln sein soll.” So oder ähnlich fragte mit protestierendem Unterton vor nicht langer Zeit ein Referent aus der obersten Etage des Willy Brandt Hauses bei einer Veranstaltung der Parlamentarischen Linken in der SPD. Widersprochen hat ihm niemand. Und so begnügt sich auch die Linke in der SPD mit der Forderung nach einem Spitzensteuersatz von 49 Prozent. Das wird Parteichef Sigmar Gabriel sicherlich freuen, der noch auf dem Bundesparteitag der SPD im vergangenen Dezember davor , dass mit einem Spitzensteuersatz von über 50 Prozent keine Wahlen zu gewinnen seien. Bei wem die SPD da wohl ein Vermittlungsproblem sieht? Ihre traditionale Wählerklientel dürfte sie dabei jedenfalls nicht im Blick haben. Denn die hätte gegen einen solchen sicherlich nichts einzuwenden. Vielleicht könnte eine Mitgliederbefragung hier Abhilfe schaffen. Oder, besser noch, eine repräsentative Bevölkerungsbefragung – denn wer weiß, ob in der deutlich geschrumpften Mitgliederschaft mittlerweile nicht die Besser- und Spitzenverdiener den Ton angeben und somit gar nicht länger die Bevölkerung angemessen repräsentieren. Zu vermuten ist jedenfalls, dass es eher die so genannten Qualitätsmedien sind, vor dessen Aufschrei insbesondere die SPD-Spitze zurückschreckt. Schließlich setzte eine entsprechende Positionierung auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Regierungszeit voraus, in der die SPD den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent senkte.


Auch DIE LINKE hat sich erst sehr spät und keineswegs einhellig zu der Forderung nach einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent durchringen können. Auch innerhalb der LINKEN gab es lange erhebliche Widerstände, über 50 Prozent hinaus zu gehen – und es gibt sie vielleicht noch. Selbst in dem im Oktober 2011 verabschiedeten Parteiprogramm heißt es hierzu vage: “Wir fordern die kräftige Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer.”

Dabei käme der Besteuerung von Spitzeneinkommen eine viel höhere Bedeutung zu, als der gern ins Spiel gebrachten Finanztransaktionssteuer. Schließlich sind Millioneneinkommen erst die Voraussetzung für die irren Finanztransaktionen, die parteiübergreifend gern pflichtschuldig beklagt werden – ohne den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Warum aber am Symptom ansetzen und das Problem nicht gleich an der Wurzel packen? Es verhält sich beim Spitzensteuersatz wie bei der Vermögenssteuer, der Erbschaftssteuer, der Abgeltungssteuer und der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen. Wir haben derzeit keine Opposition, die sich in diesen Fragen traut, konsequent und lautstark Stellung zu beziehen. Bloß keine Unruhe, bitte, scheint der herrschende Gemütszustand zu sein.


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