Wie jeden Mittag gehe ich kurz meine Post holen. Ich habe eine sehr freundliche Postbotin. Wenn ich ihr auf der Straße begegne, grüßt sie mich immer und fragt, ob sie schon mal gucken soll, ob für mich etwas dabei ist.
Ich lehne immer dankend ab, weil ich ja weiß, wie sehr die Postboten heutzutage unter Druck stehen; immer schneller für immer weniger Geld – und haben sie das nicht vor allem der Ideologie zu verdanken, der die FDP am fundamentalsten nachhängt: der Ideologie des Nachtwächterstaates?
Es ist vielleicht hilfreich, sich zu versichern, dass der Begriff Nachtwächterstaat auf einen der Gründerväter der SPD, Ferdinand Lasalle, zurückgeht; Lasalle polemisierte damit gegen ein Staatsverständnis, das die Aufgaben des Staates ausschließlich auf den Schutz der persönlichen Freiheit und des Privateigentums reduziert wissen möchte. Und so war es denn auch eine Regierung aus CDU/CSU und FDP, unter der 1994 die Privatisierung der Post erfolgte.
Jedenfalls fand ich heute in meinem Briefkasten einen Brief von Rainer Brüderle, Mitglied des Deutschen Bundestages, Platz der Republik 1, 11011 Berlin: An die Bürgerinnen und Bürger des Hauses Marienstr. 31, 10117 Berlin. Ob meine Postbotin gesehen hat, was sie da verteilt? Nun, dafür wird sie wohl kaum Zeit gehabt haben. “Postwurfspezial” ist noch auf dem Umschlag zu lesen, dort, wo auf Briefen von Normalsterblichen die Briefmarke klebt; das heißt in diesem Fall: dieser Brief wurde vom Steuerzahler bezahlt. Wären diese Portoausgaben nicht vom Steuerzahler gedeckt, hieße das, die Staatsschulden gingen rauf.
Und um genau diese geht es Brüderle in seinem Brief an mich: “Staatsschulden sind das süße Gift der Politik”, schreibt er mir, fett gedruckt. Zuerst dachte ich, die FDP schreibt jetzt schon Bettelbriefe an Privathaushalte. Einleitend heißt es nämlich: “Sehr geehrte Damen und Herren, sicher kennen Sie das auch: Wir können uns nicht immer all das leisten, was wir uns wünschen. Das kennen Sie persönlich von der Haushaltskasse, das kennt der Unternehmer aus dem täglichen Geschäft. Das Gleiche gilt auch für Regierungen.” So gewendet, scheint “Gleichmacherei” für Brüderle plötzlich nicht mehr kritikwürdig zu sein. Dann erst folgt der Satz mit dem “süßen Gift” der Staatsschulden.
Nun erinnern Sie sich vielleicht – trotz seiner farblosen Amtszeit – daran, dass Rainer Brüderle auch einmal Bundesminister für Wirtschaft und Technologie war. So steht es auch in seinem Briefkopf: Bundesminister für Wirtschaft und Technologie a.D.
Als dieser sollte Brüderle zunächst einmal wissen, dass der Staat bzw. die Staatskasse keineswegs vergleichbar und schon gar nicht identisch ist mit der persönlichen Haushaltskasse, auch nicht mit dem täglichen Geschäft der Unternehmer. Wenn unsere persönliche Haushaltskasse mal im Minus ist, müssen wir entweder kürzer treten, bis dieses Defizit wieder ausgeglichen ist, oder aber uns um höhere Einnahmen bemühen; tun wir das als Einzelne, hat dies keine spürbaren Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Der Staat aber entscheidet mit seinen Ausgaben und Einnahmen über die Geschicke der ganzen Gesellschaft. Investiert er zum Beispiel zu wenig in Bildung, weil er im buchstäblichen Sinne vernarrt ist, die Schulden zurückzufahren, holt dies die Gesellschaft schon in der Gegenwart, erst Recht aber in der fernen Zukunft ein; jedes Jahr verlassen in Deutschland rund 60.000 Schüler die Schulen ohne Abschluss; ihre Aussichten, einen qualifizierten Beruf zu erlernen und Arbeit zu finden, stehen sehr schlecht; eine Entwicklung die schließlich auch die Staatseinnahmen und -ausgaben bestimmt; denn wer keine Arbeit hat, zahlt keine Einkommenssteuern und sollte staatliche Unterstützung erhalten; die Voraussetzungen, einmal aufgenommene Schulden zurückzuzahlen, verschlechtern sich ebenfalls, denn Schulden lassen sich leicht aus einer produktiven Volkswirtschaft mit hochqualifizierten Arbeitnehmern begleichen, nicht aber aus einer Volkswirtschaft, deren Staat es versäumt, möglichst allen Menschen eine gute Bildung zu ermöglichen. Damit wird nicht zuletzt auch das “tägliche Geschäft” des Unternehmers erschwert. Und schließlich gilt: Jedem Euro Schulden steht zwingend ein Euro Vermögen gegenüber. Freilich sind Schulden und Vermögen sehr ungleich verteilt; das aber kümmert Brüderle nicht. Für ihn sind Staatsschulden nun einmal per se “das süße Gift der Politik”.
Folglich heißt es in Brüderles Brief, ebenfalls fett gedruckt: “Unser Ziel ist Schuldenabbau!” Dafür – und nicht etwa für Bildung und Wohlstand für alle – “kämpft die schwarz-gelbe Koalition”, schreibt Brüderle mir. Stolz verkündet er: “Gleich nach dem Amtsantritt haben wir ein milliardenschweres Sparpaket für den Bund beschlossen. Wir haushalten mit Bedacht und Vorsicht!” Und: “Durch unsere solide Haushalts- und Wirtschaftspolitik wollen wir es schaffen, dass der Bund bereits 2014, also zwei Jahre früher als vorgesehen, die Schuldenbremse einhält. Das ist nicht leicht, aber daran arbeiten wir konsequent.” Und: “Unsere Grundsätze, unsere Schuldenbremse, unsere wachstumsorientierte Politik sind inzwischen Vorbild für ganz Europa.” Dass die deutsche Bundesregierung droht, damit die gesamte Eurozone in die Depression zu treiben, millionenfaches Elend schon jetzt verbreitet und schließlich den Euro aufs Spiel setzt, das alles kümmert Brüderle nicht.
Schließlich findet Brüderle es “sozial ungerecht, immer mehr auszugeben, als wir haben.” Wer aber ist “wir”? Die steigende Anzahl von Millionären und Milliardären in Deutschland, die gut situierten Bundestagsabgeordneten, oder die Hartz-IV-Bezieher, Niedriglöhner, Leiharbeiter und verarmte Rentner?
“Schulden treiben die Inflation hoch. Vor allem Kleinsparer, Geringverdiener und Rentner werden um ihr Geld gebracht”, schimpft Brüderle. Er ist politisch entweder, man muss es aufgrund dieses ebenso dreisten wie dümmlichen Briefes einmal so deutlich schreiben, unwissend oder ein Scharlatan, der uns für dumm verkaufen will. Weder hat der massive Anstieg der Staatsschulden – vornehmlich verursacht durch die staatliche Rettung privater Banken und der Privatwirtschaft insgesamt während der Finanzkrise – eine die Preisstabilität gefährdende Inflation nach sich gezogen, noch droht dies. Die “Geringverdiener” wiederum hat die FDP erst mit hervorgebracht, indem sie der Agenda 2010 und anderen arbeitnehmerfeindlichen Gesetzen zugestimmt hat, die über Jahre zu massiven Reallohnverlusten geführt haben; ebenso zeichnet die FDP für arme Rentner mit verantwortlich, die vor allem durch die Renten-”Reformen” – die Teilprivatisierung des Rentensystems – und die niedrigen Löhne, die zunehmend auf die Renten durchschlagen, um ihr Geld gebracht werden.
“Auf Schuldenbergen können keine Kinder spielen”, so Brüderle abschließend. Und er wirft noch einmal alles durcheinander: “Statt Geld für Schuldenzinsen zu verwenden, investieren wir lieber in die Zukunft. Meine FDP-Kollegen im Deutschen Bundestag und ich wollen eine ausgeglichenen Haushalt im Jahr 2014 erreichen. Dann können endlich Staatsschulden zurückgezahlt werden.” Dass er dafür heute Ausgaben kürzt und damit dringend notwendige Investitionen in Mensch und Infrastruktur verhindert, interessiert Brüderle nicht, oder er sieht und begreift diese Zusammenhänge einfach nicht. Steuern für Vermögende und Spekulanten zur Verbesserung der Einnahmeseite kommen ihm gar nicht erst in den Sinn.
“Deshalb kämpfe ich mit meiner Mannschaft, der FDP-Bundestagsfraktion, für unser stabiles Geld”, schreibt Brüderle noch. Hoffentlich nicht mehr lange! Denn Brüderles Kampf macht viele arm und wenige Reich, spaltet unsere Gesellschaft und beraubt sie ihrer Zukunft, und das schon viel zu lange. Abschließend stellt sich die Frage: Ist das eigentlich erlaubt, Wahlwerbung aus der Bundestagsfraktion heraus? Vielleicht wird ein findiger Jurist hierauf eine Antwort wissen; dann bitte ich, diese an info@wirtschaftundgesellschaft.de zu senden.
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