Dokumentation des Europäischen Aktionstags für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 27. April 2012 in Berlin

Aktion vor dem Kanzleramt beim Europäischen Aktionstag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 27. April 2012 in Berlin (zur Vergrößerung auf Bild klicken)

Berlin. Über die Situation von und die Auswirkungen der Politik auf Menschen mit Behinderungen wird in den einschlägigen Medien kaum berichtet.

Das war bei dem Europäischen Aktionstag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 27. April 2012 in Berlin nicht anders. Bei einer Suche bei google am 30. April 2012 mit den Stichworten “aktionstag menschen mit behinderung 27.04.2012 berlin” findet sich auf den ersten drei Seiten (weiter haben wir nicht geblättert) kein einziger Zeitungsbericht über den Protesttag, der rund 2000 Menschen vor das Kanzleramt und in einem Demonstrationszug zum Brandenburger Tor zog. Wirtschaft und Gesellschaft dokumentiert an dieser Stelle die Rede von Ursula Engelen-Kefer auf der Abschlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor sowie Interviews mit Beteiligten. Helfen Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese Dokumentation mit zu verbreiten, um für Menschen mit Behinderung mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen.

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Erneut demonstrieren wir heute für die Würde der Menschen mit Behinderungen und gegen ihre Diskriminierung und Benachteiligung in Arbeit und Gesellschaft.

Jeden Tag können wir in den Medien lesen und hören, wie das “Beschäftigungswunder” in der Bundesrepublik bejubelt und der Mangel an Fachkräften beklagt wird.

Für die Menschen mit Behinderungen ist dies reiner Hohn. Sie werden immer mehr von der Beschäftigung und einem menschenwürdigen Leben abgehängt. Wenn sie überhaupt eine Arbeit finden, ist dies häufig prekäre Beschäftigung in Niedriglohnsektoren und zu Hungerlöhnen. Etwa die Hälfte von ihnen muss Hartz Iv beziehen.

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Zum Hören: Interview mit Carsten Dinnesen von der Lebenshilfe Berlin – WG Verbund Marzahn

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Wir haben als Sozialverband Deutschland ebenso wie die Gewerkschaften und andere Sozialverbände die “Mini-Erhöhung” der Regelsätze bei Hartz IV scharf kritisiert. Während den Banken hunderte von Milliarden Euro in den Rachen geworfen werden, wird bei den Menschen in Hartz IV um jeden Cent gefeilscht.

Ursula Engelen-Kefer und Carsten Dinnesen im Gespräch vor dem Kanzleramt beim Aktionstag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

Wir haben deutlich gemacht, dass es reine Willkür war, wenn die Bundesregierung Langzeitarbeitslosen zum Beispiel jeglichen Besuch eines Restaurants untersagt. Wie soll damit die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden? Was hat das noch mit einem menschenwürdigen Leben zu tun? Dies ist reine Bevormundung und gesellschaftliche Isolierung von Millionen betroffenen Menschen in Deutschland.

Dies ist besonders bitter, nachdem die Bundesregierung gerade ihren Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN Menschenrechtskonvention für Menschen mit Behinderungen mit großem Öffentlichkeitswirbel gestartet hat. Dabei sind gerade behinderte und schwerbehinderte Menschen darauf angewiesen, dass ihr Selbstwertgefühl durch erlebte Selbstbestimmung und berufliche Teilhabe gesteigert wird. Unabdingbare Voraussetzung hierzu ist die humane und nachhaltige Inklusion in Bildung und Erwerbsleben.

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Zum Hören: Interview mit Menschen vom Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e.V.

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Ich finde es daher gut, dass das Sozialgericht Berlin auf die Klage einer dreiköpfigen Familie in Harz IV die Notbremse gezogen und das Bundesverfassungsgeriht angerufen hat. Wir können jetzt als SoVD mit noch größerem Gewicht darauf dringen, dass der Skandal beseitigt wird, dass über 25 jährige Menschen mit Behinderungen nur 75 Prozent der Regelsätze erhalten, wenn sie in der Familie ihrer Eltern wohnen. Als ob diese Menschen nicht schon genug geschlagen sind, werden sie auch noch um die sowieso schon magere Grundsicherung betrogen.

Die Bundesregierung wäre gut beraten, endlich einen menschenwürdigen Regelsatz bei Hartz IV zu gewähren. Wenn Bundesarbeitsministerin, Ursula von der Leyen, ein großes Herz auch für andere als ihre eigenen Kinder hat, dann muss sie zuallererst die Regelsätze erhöhen. Von 3,50 Euro am Tag kann kein Kind vernünftig ernährt werden. Daran ändert auch nichts, dass in den kaum praktikablen Kinderpaketen zum Beispiel Flötenunterricht angeboten wird.

Ein weiteres Stück aus dem Tollhaus der schwarz-gelben Bundesregierung ist die politische Herumeierei um das Betreuungsgeld, dass, wenn Eltern ihre Kinder zu Hause betreuen, dies ausgerechnet Kindern und Familien, die Hartz IV beziehen, vorenthalten werden soll.

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Für alle Kinder ist es dringend erforderlich, dass die Kinderbetreungseinrichtungen mit hochwertigen Erziehungs- und Förderleistungen ausgebaut werden. Nur dann kann die Isolierung und Benachteiligung der Kinder aus armen Familien beendet werden.

Auch die Versprechen aus dem Hause der Bundesarbeitsministerin hinsichtlich eines gesetzlichen Mindestlohns sowie zusätzlicher Renten für Geringverdiener sind vor allem heiße Luft. Solange der Mindestlohn nicht einheitlich für alle Tätigkeiten und mindestens 8,50 Euro in der Stunde durchgesetzt wird, bleibt Armut bei Arbeit auf der Tagesordnung. Die so genannte Zuschussrente ist mit so hohen Zugangshürden versehen, dass die Menschen, die sie wirklich brauchen, niemals daran kommen können. Es ist nur als politischer Zynismus zu bezeichnen: Aus wahltaktischen Gründen ständige Versprechen zu machen – aber dann die Trauben so hoch zu hängen, dass diejenigen, die sie brauchen, nicht daran kommen können.

Es ist ein Skandal: Trotz Verbesserung der Beschäftigung und Rückgang der Arbeitslosigkeit, steigen Arbeitslosigkeit und Armut der Menschen mit Behinderungen und Schwerbehinderungen. Als SoVD wiederholen wir mit aller Deutlichkeit unsere Forderung: Die gesetzliche Beschäftigungsquote für schwerbehinderte Menschen muss wieder auf sechs Prozent erhöht werden. Das mit ihrer Absenkung auf fünf Prozent angestrebte Ziel von 50.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen ist keinesfalls erreicht. Darüber hinaus ist die Ausgleichsabgabe spürbar aufzustocken, die Betrieb zahlen müssen, die ihrer Beschäftigungspflicht für Schwerbehinderte nicht nachkommen. Wir dürfen nicht länger zusehen, dass sich über 37.000 Unternehmen von ihrer gesetzlichen Beschäftigungspflicht loskaufen.

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Es ist ein mindestens so großer Skandal, dass der Anteil der Jugendlichen mit Behinderunegn in einer betrieblichen Berufsausbildung an allen Auszubildenden nur ein Prozent beträgt. Wir nehmen die Politik und Wirtschaft in die Pflicht, mehr betriebliche Ausbildunsgplätze für behinderte und schwerbehinderte Jugendliche zur Verfügung zu stellen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, die drastischen Kürzungen bei der Arbeitsmarktpolitik zurückzunehmen. Weitere Einschränkungen der beruflichen Eingliederungs-, Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen werden die Beschäftigungschancen für Menschen mit Behinderungen weiter verschlechtern.

Rund 2000 Menschen demonstrierten bei der Abschlusskundgebung vor dem Brandenburger Tor.

Die Privatisierung der Arbeitsmarktpolitik ist ein reines Arbeitsbeschaffungs- und Gewinnvermehrungsprogramm für Leiharbeitsagenturen und private Personalvermittler. Wir brauchen einen grundlegenden Wechsel in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Nur dann kann Ausgrenzung auch und insbesondere der Menschen mit Behinderungen wirksam bekämpft und ihre Teilhabe und Inklusion in die Gesellschaft ermöglicht werden. Dafür streiten wir heute an diesem Europäischen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.

In eigener Sache: Wenn nur 100 Wirtschaft und Gesellschaft abonnieren…


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