Zufall oder Bestimmung? Für das im folgenden rezensierte Buch habe ich eigens die Lektüre von Theodor Fontanes Cécile unterbrochen.
Nur um festzustellen, dass sich innerhalb der in Nasentanz geschilderten Welt der Ministerien die Verhältnisse seitdem gar nicht so sehr verändert haben, wenn sie nicht sogar hinter jene der von der Gesellschaft weitgehend abgenabelten und den gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherhinkenden preußischen Oberschicht zurückgefallen sind, weswegen unter Insidern des Politikbetriebs ja gelegentlich auch von “Leibeigenschaften” gesprochen wird, um dem Dienstverhältnis zwischen Abgeordneten und Mitarbeitern, Dienstherren und Untergebenen, mit einem Wort Ausdruck zu verleihen.
Eine Kostprobe: “Jetzt, wo sie (Ministerin Schönhals, T.H.) an ihrem Schreibtisch saß und von ihrer Sekretärin Güldner einen Kaffee und ein Butterbrötchen mit Tilsiter Scheibenkäse serviert bekommen hatte, fühlte sie sich gleich wieder in ihrem Element.” Oder: “Als ihn (den Boten, T.H.) kurz vor Feierabend der Referatsleiter 22 für Verkehrsinfrastruktur, Generalverkehrsplanung, Straßenbau, Betrieb, Brückenbau und Sicherheitsaudit, Herbert Hiller, wieder einmal, wie so oft, von oben herunter gemustert hatte, reichte es ihm schon wieder. Dabei hatte er, wie immer, lediglich bei ihm angeklopft und freundlich einen Guten Tag gewünscht.” An anderer Stelle lässt der Autor einen Bundestagsabgeordneten reflektieren: “Wenn man anfinge, die Abgeordneten mit der Leistungsbereitschaft von gewöhnlich arbeitenden Menschen zu vergleichen, könnte man ohnehin gleich einpacken.”
Das freilich dürften die meisten wirklichen Abgeordneten selbst sicherlich ganz anders sehen. Und mit was die sich alles so herumschlagen müssen bzw. meinen, sich herumschlagen zu müssen, die damit verbundenen Widersprüche, Identitäts- und Realitätsverluste, Zwänge und Abhängigkeiten, den allgegenwärtigen, gewissenlosen Lobbyismus, den Verlust des Privatlebens, sei er selbst verschuldet oder den Verhältnissen geschuldet, all das legt Joseph Dehler scheibchenweise und durch seinen leichtfüßigen, plaudernden Ton gleichermaßen humorvoll und schonungslos in elf Erzählungen offen.
Warum hat Dehler mich bei der Lektüre in seiner Erzählweise bloß immer wieder an Tom Sharpe erinnert? Nun vielleicht, weil Dehler jegliche deutsche Schwermut, der berühmte erhobene Zeigefinger, moralische Wichtigtuerei und Überheblichkeit abgeht, keineswegs aber das Wissen um die von ihm geschilderten Verhältnisse. Und was macht es einem schließlich leichter, ernsthaft über Dinge nachzudenken, als humorvoll mit der Nase auf diese gestoßen zu werden?
Gerade habe ich noch einmal nachgelesen, dass Tom Sharpe, bevor es ihm sein Erfolg erlaubte, als Schriftsteller zu leben, unter anderem als Sozialarbeiter, Fotograf und Buchhalter unterwegs war, in Südafrika, bis er 1961 wegen seines Engagements gegen das damalige Apartheidsregime ausgewiesen wurde. Er kannte das System dort also gewissermaßen von innen. Das ist eine weitere Parallele zu Dehler, der lange in verschiedenen Regierungsapparaten beschäftigt war und noch heute als Politikberater tätig ist – aber eben auch, über den zweiten Bildungsweg kommend, nach Fabrikarbeit, Hotelfach und Bundespolizei, Hochschulrektorentätigkeit, Promotion und Habilitation zum Prof. Dr. Phil. offensichtlich bis heute nicht die Bodenhaftung verloren hat.
Anders ist die Detailkenntnis, die jedes mir bekannte Sachbuch überflügelt, anders sind die Einblicke, die Dehler in seinen Geschichten zu Tage fördert, auch gar nicht zu erklären. Die Freude, mit der er diese dem Leser im Vorbeigehen auftischt, ist seinem Schreibstil anzumerken; auch seine zum Teil ins Burleske gehende Schilderungen, mit denen er den Lesern die Wirklichkeit umso deutlicher vor Augen führt, lassen auf eine gewisse Seelenverwandschaft mit Tom Sharpe schließen. Ob Dehler ihn je gelesen hat? Ich zuletzt als Jugendlicher oder junger Erwachsener. Lang ist´s her. Wenn die “heutige Jugend” doch Dehler lesen würde und die Erwachsenen natürlich auch, allen vorweg aber die Politiker selbst und die im weitverzweigten Politikbetrieb Tätigen. Politik gewönne unmittelbar an Fahrt; nicht nur, weil Dehlers Buch trotz allen Humors in die Tiefe geht, in die persönlichen Abgründe der Beteiligten blickt, die über nichts weniger entscheiden, als die Richtung, die unsere Gesellschaft nimmt, die in das Leben jedes Einzelnen eingreifen, obwohl sie häufig doch nicht einmal ihr eigenes Privatleben wohl und harmonisch, beständig zu gestalten in der Lage sind und sich nicht selten selbst zu einem Rad im Getriebe des Politikbetriebs degradieren; auch, weil es nicht zuletzt zeigt, dass wir alle ihre Jobs machen könnten – aber würden wir es besser machen? Dehler hält nicht nur den Politikern den Spiegel vor, auch uns, den Lesern, zu denen hoffentlich auch der “nahezu in allen Situationen nickende Referent” zählt, kurzum: uns Menschen in all unserer Dürftigkeit und Bedürftigkeit; und weil Dehler die Unverhältnismäßigkeit aufzeigt, zwischen dem, was Politiker für sich beanspruchen, ja, für selbstverständlich erachten, und dem, was sie vor allem den sozial Schwachen per Gesetz abnötigen und den gut Betuchten hinterherwerfen.
An das Ende seiner Erzählungen hat Dehler einen “Appell” und ein “Geleit” gestellt. Er fordert darin dazu auf: “Politikerinnen und Politiker auf Abwegen! Nehmt Abschied von Selbstherrlichkeit und Filz. Findet zurück. Staatsdienerinnen und Staasdiener aller Dienstgrade! Widersteht Machtgelüsten und Irreführungen von Amts- und Mandatsträgern. Bleibt standhaft. Wählerinnen und Wähler! Verlangt Rechenschaft über den Verbleib Eurer Stimme. Nichtwählerinnen und Nichtwähler! Mischt Euch ein – trotz gelegntlicher Enttäuschung!…” All seine Appelle, nicht nur die hier aufgegriffenen, wären es wert, aus dem Munde zumindest eines Bundespräsidenten gesprochen zu werden. In seinem “Geleit” zitiert Dehler schließlich Laotse: “Pflichtbewusstsein ohne Liebe macht verdrießlich. Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos. Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart…” Auch die Geleitsätze, nicht nur die hier herausgegriffenen sind allesamt lesens-, annehmens- und nachahmenswert.
Nasentanz ist ein Buch, dem man weite Verbreitung und viele Leser wünscht – zur Belebung oder Wiederbelebung unserer Demokratie, um die es wahrlich nicht zum Besten bestellt ist, nicht zuletzt aufgrund der von Dehler aufgezeigten Verhältnisse hinter den Kulissen des Politikbetriebs. Aber immerhin, die Ausweisung droht ihm hier nicht.
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