In der Nacht vom 30. auf den 31. März wurde eine Tarifeinigung für den Öffentlichen Dienst erzielt. In einem Kommentar auf Wirtschaft und Gesellschaft habe ich daraufhin zu dem Ergebnis drei kritische Fragen formuliert.
Jetzt hat Achim Meerkamp, Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes, Leiter der Fachbereiche Bund, Länder, Gemeinden und Teil der Verhandlungsspitze in der Tarifrunde für den Öffentlichen Dienst, geantwortet und relativiert meine Kritik bzw. stellt sie richtig, indem er detailliert über den Inhalt der Tarifeinigung informiert.
Das Medienecho war einhellig wie selten: “Ende der Bescheidenheit”, “satte Lohnerhöhungen”, “Abschluss mit Signalwirkung”. Fast durchweg sprachen die Kommentatoren nach der Tarifeinigung im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen von einem “Erfolg für ver.di”, selbstverständlich flankiert von Warnungen der kommunalen Spitzenverbände vor weiterem Personalabbau und Privatisierungen sowie der – mit Blick auf die eigene Tarifrunde durchsichtigen – Bewertung durch die Metallarbeitgeber im Südwesten, der Staat habe “über seine Verhältnisse abgeschlossen”.
Wirtschaft und Gesellschaft macht in einer ersten Bewertung des Tarifergebnisses drei Fragezeichen hinter die Einigung. Doch sind diese Fragezeichen berechtigt?
Kritisch verzeichnet der Wirtschaft und Gesellschaft-Kommentar die Neuregelung des Urlaubs als Arbeitszeitverlängerung für alle nicht über 54-Jährigen. Das ist sachlich falsch, weil zum einen eine umfassende Besitzstandssicherung für alle aktiv im öffentlichen Dienst Beschäftigten vereinbart wurde, die nach der alten Regelung spätestens im Laufe des Jahres 2012 einen Anspruch auf 30 Tage Urlaub erhalten hätten. Die Neuregelung bringt zudem allen unter 30-Jährigen drei Urlaubstage mehr als bisher! Zum anderen verkennt der Einwand, was die Alternative einer Einigung in dieser Tarifrunde gewesen wäre: Die Arbeitgeber hatten unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie ohne Einigung die bisherige Urlaubsregelung zum Jahresende gekündigt hätten. Dann hätten zwar alle derzeit im öffentlichen Dienst Beschäftigten von der Nachwirkung des Tarifvertrags profitieren und nach der jüngsten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 30 Tage Urlaub beanspruchen können – dies aber bei Weigerung der Arbeitgeber notfalls individualrechtlich durchsetzen müssen. Gleichzeitig hätte ohne tarifliche Neuregelung für alle Neueingestellten und für Arbeitsplatzwechsler nur noch der Anspruch aus dem Bundesurlaubsgesetz – also lediglich vier Wochen Urlaub – gegolten. Nach den Erfahrungen beispielsweise mit den Arbeitgeberforderungen nach Arbeitszeitverlängerung 2008 bleibt zumindest fraglich, ob in einem separaten Arbeitskampf eine ähnlich gute Regelung möglich gewesen wäre, wie sie jetzt erzielt wurde. Gleichwohl ist es für diejenigen, die jetzt zwischen 30 und 39 Jahre alt sind, misslich, dass sie nun bis zum 55. Lebensjahr warten müssen, bis sie einen Anspruch auf 30 Tage Urlaub erhalten.
Ebenfalls kritisch sieht Wirtschaft und Gesellschaft, dass die unbefristete Übernahme von Auszubildenden erst nach einjähriger „Bewährungszeit“ erfolgen soll. In der Tat hätten wir uns eine Tarifregelung ohne solche Schnörkel gewünscht. Bisher hatten die Arbeitgeber aber die unbefristete Übernahme selbst bei bedarfsgerechter Ausbildung abgelehnt und die Übernahme gleichzeitig von den Abschlussnoten der Azubis abhängig gemacht. Jetzt gibt es für die Auszubildenden einen Rechtsanspruch auf Übernahme bei bedarfsgerechter Ausbildung für ein Jahr und eine automatische Entfristung bei Bewährung. Da diese Vorgabe aus den Bewährungsaufstiegen des alten BAT erprobt und ausgeurteilt ist, können die Arbeitgeber eine Entfristung nur noch ablehnen, wenn Auszubildende im ersten Jahr nach der Übernahme eine rechtswirksame Abmahnung erhalten – was in der Praxis äußerst selten vorkommen dürfte. Dies bedeutet faktisch eine unbefristete Übernahme, und zwar nicht nur für die Berufsbilder nach dem Berufsbildungsgesetz, sondern erstmals auch für den gesamten Bereich der Krankenpflege-Ausbildung! Darüber hinaus werden alle Ausbildungsvergütungen zum 1. März 2012 um 50 Euro und zum 1. August 2013 um weitere 40 Euro erhöht. Zudem übernehmen die Arbeitgeber künftig die Kosten für Fahrten zu auswärtigen Berufsschulen oberhalb eines Eigenanteils von sechs Prozent der Ausbildungsvergütung im ersten Ausbildungsjahr. Damit wird die Eigenbeteiligung auf 45,19 Euro begrenzt, während Jugendliche bisher teilweise Fahrtkosten bis zu 200 Euro und mehr selbst tragen mussten.
Weiter stellt Wirtschaft und Gesellschaft die Frage, ob der aktuelle Tarifabschluss die Reallohnverluste des letzten Abschlusses ausgleicht. Zumindest mit Blick auf 2011 lässt sich das – bei aller Vorsicht – eindeutig bejahen! Das Statistische Bundesamt beziffert den Reallohnverlust im öffentlichen Dienst für das vergangene Jahr mit 0,6 Prozent. Nimmt man die Inflationsprognose von IMK, OFCE und WIFO von 1,8 Prozent für 2012 hinzu, muss der Abschluss für eine Reallohnsteigerung über 2,4 Prozent liegen. Die vereinbarten Gehaltserhöhungen von 3,5 Prozent ab 1. März 2012 und einer zweiten Anhebung – noch innerhalb des ersten Laufzeitjahres – zum 1. Januar 2013 um 1,4 Prozent entsprechen im Schnitt des ersten Jahres der Laufzeit einer Erhöhung um 3,73 Prozent.
Hinzu kommen weitere Ergebnisse der Tarifeinigung, die nicht vergessen werden sollten. So erhalten die Beschäftigten an den Flughäfen mit mehr als 5 Millionen Passagieren in diesem Jahr eine Sonderzahlung von 600 Euro, die Beschäftigten der kleineren Flughäfen erhalten 200 Euro! Darüberhinaus werden Verhandlungen über eine tarifliche Ertragsbeteiligung der Flughafenbeschäftigten ab 2013 aufgenommen.
Für das technische Personal an Theatern und Bühnen gibt es darüberhinaus eine Verhandlungszusage, bis Ende September dieses Jahres ihre Einbeziehung in den Geltungsbereich des TVöD sicherzustellen! Dies ist nötig, nachdem immer mehr Arbeitgeber, häufig einzelvertraglich, dazu übergegangen sind, technischem Personal wie Beleuchtern, Schlossern oder Schreinern „überwiegend künstlerische Tätigkeiten“ zu unterstellen, um sie statt nach TVöD nach dem schlechteren „Normalvertrag Bühne“ beschäftigen zu können.
So werden aus den „drei Fragezeichen“, die Wirtschaft und Gesellschaft hinter das Tarifergebnis setzt, bei genauer Betrachtung fünf Ausrufezeichen. Dass sich Verhandlungsspitze und Bundestarifkommission dennoch sehr schwer damit getan haben, dieses Tarifergebnis anzunehmen, liegt in der kategorischen Ablehnung vor allem der kommunalen Arbeitgeber, eine soziale Komponente zu vereinbaren. Für ver.di ist und bleibt die Forderung nach einem Mindest- oder Sockelbetrag zugunsten unterer Entgeltgruppen ein zentrales sozialpolitisches Gebot. Es ist äußerst bedauerlich, dass die Arbeitgeber an dieser Stelle dogmatisch einen Kompromiss verweigert haben. Dass wir uns in diesem Punkt nicht durchsetzen konnten, sollte aber bei einer differenziert-kritischen Bewertung mit den Erfolgen dieser Tarifrunde abgewogen werden – und da ist das Gesamtergebnis durchaus beachtlich.
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