Staatsfeind Nr. 1
“Um die Risiken für die Schuldentragfähigkeit im Euro-Währungsgebiet zu begrenzen, sollten die öffentlichen Schuldenstände auf deutlich unter 60 % des BIP gesenkt werden”, empfiehlt die Europäische Zentralbank in ihrem heute erschienenen Monatsbericht für April.
Das entspricht so ziemlich genau den Vorstellungen des Chefs der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, wenn er sagt: “Es ist wahr, dass Haushaltskonsolidierung, unter normalen Umständen, das Wirtschaftswachstum dämpfen könnte. Aber strukturelle Reformen und Konsolidierung sind häufig schwer zu trennen. Ein aufgeblähter öffentlicher Sektor oder sehr großzügige Rentensysteme, zum Beispiel, sind beides, eine Wachstumsbremse und eine Belastung für den Staatshaushalt. Eine andere Frage ist: sind dies normale Zeiten? Es ist offensichtlich, dass jeder öffentliche Schulden als Bedrohung ansieht. Die Märkte tun dies, Politiker tun dies, und die Menschen auf der Straße tun dies.” (1)
Weidmann unterfüttert die Auffassung der EZB und der Bundesbank über die Bedeutung der Staatsschulden damit zugleich mit dem deren Auffassung zugrundeliegenden ideologischen Rüstzeug: Der öffentliche Sektor und die ihm eigenen sozialen Sicherungssysteme sind per se Teufelszeug. Wären sie dies für die Notenbanker nicht, würde Weidmann sie nicht mit “aufgebläht” und “großzügig” herabsetzen; denn dass der öffentliche Sektor insbesondere in Krisenländern wie Griechenland nicht aufgebläht ist, hat selbst die jeder Staatsgläubigkeit fern stehende OECD wiederholt festgestellt. So verstanden sind die Europäische Zentralbank und noch mehr die Deutsche Bundesbank die Staatsfeinde Nr. 1.
Da ist es nur konsequent, wenn Weidman weiter fortfährt, dass aus seiner Sicht die Risiken der Haushaltskonsolidierung mithin übertrieben sind. In jedem Fall gäbe es kaum eine Alternative. Der einzig Erfolg versprechende Ansatz sei, so Weidman, sich aus der Krise heraus zu sparen (2).
Man kann die derzeitige, nunmehr seit Jahren praktizierte Politik überhaupt nur verstehen, wenn man sich dieser ihr zugrundeliegenden Grundsätze vergegenwärtigt. Wir müssen Jens Weidmann dankbar sein, dass er sie so unverfälscht ausspricht; was wiederum nur aussagt, wie sicher er sich seiner Sache ist – trotz der sozialen und ökonomischen Verwüstungen, die die Umsetzung dieser Ideologie nicht nur in den Krisenländern zeitigt. Denn zuerst umgesetzt hat sie schließlich Deutschland mit der Umsetzung der Agenda 2010. Und Deutschland hat ein weiteres Mal die ideologische Vorhut gebildet, als es die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben hat, die jetzt in ganz Europa Gesetz werden soll.
Ursache nicht Lösung
Das Schlimme: Der jetzt eingeschlagene Weg, die einseitige Fixierung auf die Staatsschulden und deren Reduzierung über Ausgabenkürzungen und Privatisierungen ist nicht die Lösung, es ist die Ursache des Ganzen. Weil spätestens mit der Agenda 2010 in Deutschland der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen und dem Gemeinwesen eingeläutet wurde und mit ihm die gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden, die Einnahmebasis des Staates zu schwächen und die Ausgaben zurückzufahren, die sozialen Sicherungssysteme zu teilprivatisieren und die gesetzliche Umlagefinanzierung entsprechend in die Defensive zu bringen, die Arbeitsmärkte zu deregulieren und die Arbeitslosenversicherung zu entsichern und über die damit eingeleitete Schwächung der Arbeitnehmerseite die Lohnentwicklung von der Produktivitäts- und Preisentwicklung zu entkoppeln, wurde das Hauptziel der Währungsunion, ein gemeinsames Inflationsziel, gerade von Deutschland torpediert: Weil die Löhne hinter die Produktivitätssteigerungen zurückfielen, sanken die für die Preisentwicklung bestimmenden Lohnstückkosten über viele Jahre unter das Zwei-Prozent-Inflationsziel der Europäischen Zentralbank; Deutschland hat sich seinen Wettbewerbvorteil ermogelt. Die dadurch erwachsenen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte aber werden bis heute gerade von der deutschen Bundesregierung und der Deutschen Bundesbank negiert. Weitgehend negiert wird auch die Hauptursache für die Entstehung der Staatsschulden, wenn auch die EZB nicht länger darum herum kommt – wie im aktuellen Monatsbericht – zumindest zu erwähnen, dass die Finanz- und Bankenkrise und die Übernahme der damit verbundenen Belastungen durch den Staat erst die öffentlichen Schulden haben in die Höhe schnellen lassen, wie auch der Einbruch des Wirtschaftswachstums – der durch die nur noch religiös zu nennende Spardoktrin in den vergangenen Jahren noch verschärft wurde – und mit verheerenden Folgen für Beschäftigung, menschliche Existenzen und den Zusammenhalt der Währungsunion einher ging; denn die besonders betroffenen Länder drohen immer weiter hinter den einzigen Profiteur – freilich nur auf Zeit! -, Deutschland, zurückzufallen.
“Die Märkte” sind wie Irrlichter
Es ist kaum zu glauben, aber immer noch spuken private, auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Rating-Agenturen wie Irrlichter über dem Morast, auf dem eine morsch gewordene Finanzarchitektur vergeblich Halt sucht. Solange die Politik nicht endlich neue Pflöcke einrammt, wird sich dies auch nicht ändern. Es gab und gibt auch immer wieder Vorschläge, die Finanzmärkte zu regulieren, die privaten Rating-Agenturen in die Schranken zu weisen oder ihnen zumindest eine Europäische Ratingagentur an die Seite zu stellen. Das aber ist alles viel zu zurückhaltend formuliert gewesen. Das gilt auch für die schüchterne Opposition, nicht nur aus dem politischen, auch aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Spektrum, dem deutschen allemal, gegen die Spardoktrin und für die Regulierung von Märkten, die Besteuerung von Finanztransaktionen und Vermögen und Erbschaften usw. Nein, das reicht einfach nicht. Der Markt und seine Protagonisten sind radikal, ja, sie sind intolerant gegenüber denen, die sie zu Verlierern stempeln, deren Existenzen sie vernichten: die einfachen, hart arbeitenden Menschen – und die, die der Markt bereits arbeitslos gemacht hat. Solange sich die Politik, die den Gauklern des Marktes viel zu lange nach dem Mund geredet hat, auf sie hereingefallen ist und weiter hereinfällt, nicht wirklich Paroli bietet und ihre eigenen Notenbanker mit der Wirklichkeit konfrontiert, sie mit Argumenten und Erfahrung herausfordert, wird die Eurokrise nicht gelöst werden; solange wird es heißen: Und täglich grüßt die Eurokrise.
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(1) Jens Weidmann in seiner Rede vor dem Chatham House am 28. März 2012: “It is true that consolidation might, under normal circumstances, dampen economic growth. But structural reforms and consolidation are often hard to disentangle. For example, a bloated public sector or very generous pension system are both a drag on growth and a burden on the budget. And another question is: are these normal times? It is quite obvious that everybody views public debt as a major threat. The markets do, politicians do and people on the street do.”
(2) Jens Weidmann ebenda: “In my view, the risks of consolidation are consequently being exaggerated. In any case, there is little alternative. The Chancellor of the Exchequer George Osborne recently said: “You can’t borrow your way out of debt”. In my opinion, he is absolutely right; the only promising approach is to “cut” your way out.”
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