Menschenrecht auf Existenz – Ein Gastbeitrag von Wolfgang Nešković und Isabel Erdem

Zu den Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz auf die verfassungsrechtliche Beurteilung von Sanktionen bei Hartz IV

Die Juristin Isabel Erdem und der Richter am Bundesgerichtshof a.D und Justiziar der Bundestagsfraktion Die Linke., Wolfgang Nešković, haben in einem Gastbeitrag für Wirtschaft und Gesellschaft bereits im Mai dieses Jahres die Verfassungsmäßigkeit von Hartz IV Sanktionen untersucht. Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz nehmen beide erneut zu diesem Thema Stellung. Beide unterstützen auch den Aufruf “Farbe bekennen – gegen entwürdigende Hartz IV Sanktionen und für berufliche Förderung“.

Das Recht auf ein Leben frei von Existenznot ist ein Menschenrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz entschieden: Leistungen, die erheblich unter dem Hartz-IV-Niveau liegen, sind zur Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs evident unzureichend. Dies muss auch für die Menschen gelten, die über weniger als den Hartz-IV-Regelsatz zum Leben verfügen, weil sie von Sanktionen der Jobcenter betroffen sind. Die Erfüllung eines Menschenrechts darf nicht von Bedingungen abhängig sein. Um überleben zu dürfen, bedarf es in einem Sozialstaat keiner „Gegenleistung“. Deswegen ist es verfassungswidrig, Hilfebedürftigen aufgrund einer angeblichen „Pflichtverletzung“ über Monate hinweg pauschal 10% bis 100% der (ohnehin kaum ausreichenden) Leistung zu kürzen. Denn dann ist der elementare Lebensbedarf aktuell nicht befriedigt. Das Existenzminimum muss nach dem Bundesverfassungsgericht in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein.

Im vergangenen Jahr verhängten die Jobcenter mehr als 912.000 Sanktionen, das sind mehr als je zuvor. Jede dieser Kürzungen der ohnehin unzureichenden Minimalleistung Hartz IV ist verfassungswidrig. Denn die Sanktionsnormen im SGB II (§§ 31 a, 32 SGB II) berechnen keinen Bedarf, sondern erzwingen ein regelkonformes Verhalten der Bürgerinnen und Bürger.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum (grundsätzlich: Urteil v. 9.2.2010), die es in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz (Urteil v. 18.07.2012) weitergeführt hat, besteht ein unmittelbar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, in existenziellen Notlagen die Menschenwürde seiner Bürgerinnen und Bürger positiv zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei der Konkretisierung der Leistungen eingeräumt, zugleich aber hohe Anforderungen an das Berechnungsverfahren und den Leistungsumfang gestellt.

Wenn sich der Gesetzgeber nicht an die Vorgaben hält, verhält er sich verfassungswidrig. Dies war sowohl bei der Berechnung der alten SGB-II-Normen wie auch bei dem Asylbewerberleistungsgesetz der Fall. Im Fall des Asylbewerberleistungsgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht gezeigt, dass es im Falle einer offensichtlichen Unterschreitung des Existenzminimums nicht nur eine Verfassungswidrigkeit konstatieren, sondern selbst höhere Leistungen festsetzen kann.

Das BVerfG hat zum Ursprung des Anspruchs aus der Menschenwürdegarantie ausgeführt:

  • Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Leitsatz 2)
  • Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann (vgl. BVerfGE 125, 175 <222 f.>). (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 89)

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz die Höhe der Hartz-IV-Leistungen als Maßstab für eine eigene Neuberechnung von Leistungen genommen. Es hat diese jedoch nicht für verfassungskonform erklärt. Vielmehr hat es ausdrücklich eingeschränkt:

  • Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Ob damit auch die möglicherweise abweichenden Bedarfe derjenigen realitätsgerecht abgebildet werden, auf die das Asylbewerberleistungsgesetz Anwendung findet, ist nicht gesichert. Ebenso wenig kann eine Aussage darüber erfolgen, ob auf dieser Grundlage ermittelte Leistungen an Berechtigte in anderen Fürsorgesystemen einer verfassungsrechtlichen Kontrolle Stand halten können. Da jedoch derzeit keine anderen tauglichen Daten zur Verfügung stehen, bleibt dem Senat nur die Annahme, dass jedenfalls die wesentlichen Grundbedarfe durch Leistungen in einer am Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz orientierten Höhe vorübergehend gedeckt werden können. (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 126)

Zu der Ungleichbehandlung von Personengruppen bei der Leistungsvergabe hat das Gericht klargestellt:

  • Doch offenbart ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vom 26. Oktober 2010, BTDrucks 17/3404, S. 1 unter A.), ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz. (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 112)
  • Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfGE 125, 175 <225>). (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 97)

Erneut hat das Bundesverfassungsgericht auf die Bedarfsabhängigkeit der (Sozial-)Leistungsvergabe hingewiesen:

  • Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet. (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 93)
  • Der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur, er muss aber auch in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht. (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 98)
  • Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (vgl. BVerfGE 125, 175 <253>). (BVerfG v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, Abs-Nr. 120)

Nach alldem kann (weiterhin) von der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV ausgegangen werden. Das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz hat diese Rechtsauffassung gestärkt, indem es die Allgemeingültigkeit und Bedarfsabhängigkeit des verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs hervorgehoben hat.

Zum einen gelten Menschenrechte für alle ohne Vorbehalt. Sie können nicht an Bedingungen wie regelkonformes Verhalten geknüpft werden. Das Prinzip des „Förderns und Forderns“ ist ein Rückfall hinter die Errungenschaft allgemeiner Menschenrechte. Auch soziale Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Die Menschenwürde gilt absolut. Jede Person, die sich in Deutschland aufhält – vom arbeitslosen Professor bis zum Straftäter, müsste danach Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum haben. Ebenso, wie sie alle ein Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben.

Zum anderen darf eine Unterscheidung bei der Leistungsgewährung ausschließlich bedarfsabhängig erfolgen. (Nur) wenn verschiedene Personengruppen unterschiedliche Bedarfe zum Überleben benötigen, ist eine unterschiedliche Vergabe gerechtfertigt. Dies ist bei Sanktionen der Jobcenter aber gerade nicht der Fall. Sie ergehen bedarfsunabhängig einzig aufgrund einer angeblichen Pflichtverletzung der Betroffenen, deren Bedarf nach wie vor unverändert besteht. Eine solche ungleiche bzw. eingeschränkte Leistungsvergabe ist unzulässig und verfassungswidrig.


Literaturhinweis: Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, In: Die Sozialgerichtsbarkeit 03.12, S. 134 – 140.

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