Der Piratenpartei wird regelmäßig vorgeworfen, sie habe keine Antworten. Vergleiche mit den Grünen in ihrer Anfangsphase sind darüber hinaus an der medialen Tagesordnung. Hartnäckig hält sich auch der Ruf der Piraten als Partei der “Nerds“, der Menschengattung also, die allein in der Computerwelt zu Hause ist.
Dass letzteres spätestens seit der Landtagswahl in Berlin nicht stimmen kann, liegt auf der Hand: So viele Nerds, rund zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler, die in Berlin den Piraten ihre Stimme gegeben haben, gibt es gar nicht. Noch mehr dürfte dies für die Wahlergebnisse der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gelten, wie auch für die Umfrageergebnisse für die Bundesebene. Ein paar Gespräche mit “Normalbürgern”, natürlich nicht “repräsentativ”, aber erhellend, von Studierenden bis Menschen im Rentenalter, hätten schon vor der Wahl in Berlin zur Einsicht geführt, dass “Menschen wie du und ich” es sind, die die Piratenpartei wählen. Im Gegensatz zur Linkspartei gilt dies für die Piratenpartei auch für den Ostteil wie für den Westteil der Bundeshauptstadt. Interessant in diesem Zusammenhang auch ein Besuch beim . Nicht nur, dass der Raum des Gorki-Theaters bis zum letzten Platz gefüllt war; das Publikum setzte sich wiederum buntgemischt aus allen Altersklassen zusammen. Die verengte Sicht auf die Piraten als Klientelpartei so genannter Nerds in der Berichterstattung fällt vor diesem Hintergrund schon einmal auf die so schreibende Zunft der Journalisten selbst zurück, die sich ganz offensichtlich nicht mit ihrem Gegenstand weiterentwickelt haben.
Was ist nun dran am immer wieder geübten Vergleich der Piraten mit den Grünen in ihrer Anfangsphase? Der Vergleich hinkt. Waren die Grünen doch von Anbeginn viel stärker politisiert und, zumindest was den linken Flügel anbelangt, auch ideologisiert als die Piraten es sind. Dass später jedenfalls grüne Spitzenpolitiker ihre Überzeugungen haben über Bord gehen lassen bzw. dem jeweils vorherrschenden Zeitgeist anpassten bzw. diesem dienten und prägten ist eine andere Geschichte. Man stelle sich einmal vor, Jürgen Trittin hätte sich zur Gründungszeit der Grünen als Marktjünger präsentiert, wie er es gerade erst wieder bei der Durchsetzung in der Frage des Fiskalpaktes und des ESM gegenüber seinen Parteikollegen mit diesem denkwürdigen Satz unternommen hat, als er, um eine Abstimmungsniederlage zu vermeiden, vor einer Ablehnung des Fiskalpaktes mit den Worten warnte: “Was glaubt Ihr denn, was dann auf den internationalen Finanzmärkten los ist!”
Der entscheidende Unterschied zwischen Grünen wie auch den anderen Parteien und den Piraten ist jedoch dieser: Die Grünen, SPD, Linke, FDP, CDU und CSU sind eines nie: Um eine Antwort verlegen. Dass ihre Antworten von heute, morgen schon Schnee von gestern sein können, gehört dabei mittlerweile zum politischen Tagesgeschäft vieler Spitzenpolitiker, wenn auch der einmal eingeschlagene grundsätzliche Kurs nicht zur Disposition gestellt wird – sieht man einmal von Ausnahmen wie der angestoßenen Energiewende unter dem Zeichen der Katastrophe in Japan ab.
Das streng hierarchische, allen diesen Parteien eigene System sorgt dafür, dass auch die Parteifunktionäre in den unteren Rängen, ganz zu schweigen von den oben in der Hierarchie stehenden, in der Regel brav mitlaufen; da gilt es schon als eigenständig, sich einmal der Stimme zu enthalten, oder als kleine Revolution, tatsächlich einmal gegen das vorgebene Abstimmungsverhalten zu votieren.
So dürftig die Antworten der Parteien auch ausfallen mögen und so prekär sich die Folgen ihrer politischen Entscheidungen für Millionen Bundesbürger und jetzt im Rahmen der Eurokrise für einen ganzen Währungsraum auch erweisen, an selbstbewussten und als alternativlos dargestellten Antworten und dem Festhalten an einem einmal eingeschlagenen Kurs mangelt es nicht. Zugespitzt formuliert, leben wir so verstanden gewissermaßen in einer parlamentarischen Meinungs- und Entscheidungsdiktatur. Sonst dürfte es beispielsweise auch die aufgeregte Diskussion um “Abweichler” in den eigenen Reihen bei Abstimmungen im Deutschen Bundestag gar nicht geben.
Weil dies so ist, haben sich die Parteien und die Bürger, deren Interessen – und nicht etwa die der Finanzindustrie, der wenigen Superreichen oder einseitig auf den Export ausgerichteten Industrien – die “Volksvertreter” an sich ja wahrnehmen sollen, nun schon über viele Wahlperioden hinweg immer weiter entfremdet. Fast scheint es so, dass sich parlamentarisches System und Bevölkerung auf verschiedenen Umlaufbahnen bewegen, nicht aber ein und denselben Planeten bewohnen. Der neuerdings gepflegte, doch sehr flüchtig erscheinende “Dialog” mit der Bevölkerung oder auch nur mit der Parteibasis erscheint da doch sehr inszeniert, nicht aber aus wirklichem Interesse für Land und Menschen und der Suche nach Alternativen gespeist.
Und da taucht plötzlich eine Partei auf, die eben nicht vorgibt, auf alles eine Antwort zu wissen und dies nicht etwa als Mangel empfindet, sondern als neuen Politikstil proklamiert. Frei nach der alten Weisheit: Es gibt keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten. Und an letzteren mangelt es, schaut man auf die im Bundestag vertretenen Parteien, nun wahrlich nicht. Fragen und Hinterfragen sind dagegen Mangelware. Und das ist es, was die Piratenpartei ausmacht. Vielen Menschen scheint das zu gefallen. Die anderen Parteien und die sie thematisierenden, ebenfalls nie um Antworten verlegenen Medien freilich bringt dies vollkommen aus dem Konzept. Da liegt es nahe zur Orientierung den Vergleich mit den Grünen zu suchen oder die Piraten als “chaotisierte FDP” einzuordnen – es offenbart doch aber nur die intellektuelle Hilflosigkeit im Umgang mit etwas Neuem. Um im Bild des Planeten zu bleiben, erscheinen die Piraten etwas von einem Meteoriten zu haben, der, noch bevor er richtig eingeschlagen hat, droht, die sich fest verwurzelt wähnenden Parteien samt des ihnen zugehörigen bzw. über sie berichtenden Medienapparates gehörig ins Wanken zu bringen.
Man denke nur einmal, dass da plötzlich eine Partei ist, die ohne die in allen anderen Parteien etablierten herkömmlichen Deligiertensysteme auskommt und damit auch ohne das nicht zuletzt hierüber ausgetragene, für jeden außerhalb des Parteilebens stehenden Menschen abstoßende Hauen und Stechen um Parteikarrieren und den entsprechenden Anpassungsdruck, der schon auf niederen Ebenen dafür sorgt, dass vermeintlich politische Funktionäre zu Grußwortaugusten verkommen, um die altbekannte Ochsentour nicht vorzeitig abbrechen zu müssen. Dann die Einbringungsmöglichkeiten und die Transparenz politischer Entscheidungen über das System Liquid Democracy. Das alles ist erst einmal losgelöst von den Inhalten erfrischend. Dafür spricht auch, dass die Piraten viele Nichtwähler mobilisieren konnten, wie auch aus allen anderen Parteien Stimmen hinzugewannen.
Was aber ist mit den Inhalten? Das in diesem Jahr erschienene Grundsatzprogramm der Piraten ist ein schmales Heftchen, gerade einmal 53 Seiten stark. Was zunächst auffällt und wiederum gegen die plakative Einordnung als Nerd-Partei spricht: Die Sprache ist ohne jeden Dünkel und ohne jedes Kauderwelsch allgemeinverständlich gehalten. In der Präambel heißt es, und hier erst wird es in meinen Augen kritisch: “Die Piratenpartei will sich auf die im Programm genannten Themen konzentrieren, da wir nur so die Möglichkeit sehen, diese wichtigen Forderungen in Zukunft durchzusetzen.” Die Themen, auf die sich die Piraten konzentrieren wollen, sind diese: Demokratie, Urheberrecht, Patentwesen, Teilhabe am digitalen Leben, Privatsphäre und Datenschutz, Transparenz des Staatswesens, Bildung, Existenzsicherung, Geschlechter- und Familienpolitik, Umwelt, gesellschaftliche Vielfalt, Drogenpolitik, Suchtpolitik, Whistleblowerschutz.
Was auf den ersten Blick fehlt, ist die Ökonomie. Auf welcher Grundlage aber will die Piratenpartei ihrer politischen Ziele verwirklichen? Dieser wesentliche Komplex wird überhaupt nicht thematisiert. Gewiss kann man Sätze wie diesen auch ökonomisch auslegen: Die Freiheit des Einzelnen findet dort seine Grenzen, wo die Freiheit eines anderen unverhältnismäßig beeinträchtigt wird. Hieraus ließe sich beispielsweise eine strenge Regulierung der Finanzmärkte ableiten oder eine Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen in den Sozialversicherungen usw. Was für Vorstellungen haben die Piraten entsprechend, um das “Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe” zu ermöglichen bzw. zu finanzieren? Außerdem: Warum soll Vollbeschäftigung nicht länger möglich sein? Dies wird im Grundsatzprogramm zumindest implizit unterstellt und an anderer Stelle explizit, wenn es beispielsweise im Editorial der Piratenzeitung “Kaperbrief Grundeinkommen” heißt: “Da als vorrangiges Ziel der bisherigen Wirtschaftspolitik eine Vollbeschäftigung immer illusorischer wird, soll ein Einkommen zur Existenzsicherung jedem garantiert werden.”
Der Vorteil des oben herausgestellten Politikstils der Piratenpartei scheint mir allerdings zu sein, dass eben diese Antworten, die die Piratenpartei in dieser Frage eben doch bereithält, immer noch gründlich hinterfragt und diskutiert werden können, bzw. sie genau dafür angelegt sind. Jedenfalls antwortete mir ein politisch aktiver Pirat auf meine Einwände, dass dies ja gerade erwünscht sei. Jeder könne im System der Piraten entsprechend Inhalte zur Diskussion stellen und auch Beschlussvorlagen machen, über die abgestimmt werde (vgl. zum Beispiel auch hier das Beschlussverfahren der Piratenpartei zum Aufruf “Farbe bekennen – gegen entwürdigende Hartz IV- Sanktionen und für berufliche Förderung). Wo ist solch Wirkungsgrad in einer anderen Partei möglich bzw. systematisch angelegt? Das scheint mir – neben den offensichtlich unbefriedigenden und immer wieder als alternativlos dargestellten Antworten der anderen Parteien – die großen Fragen, die das Grundsatzprogramm der Piratenpartei unbeantwortet lässt bzw. aufwirft, positiv zu relativieren. Den Ausgang dieses parteipolitischen Experiments kann niemand vorhersagen. Als eine Bereicherung des eingefahrenen, ökonomische und soziale Katastrophen befördernden Parteiensystem darf es dennoch vorerst empfunden und vielleicht auch von vielen wahrgenommen werden.
Wirtschaft und Gesellschaft ist jetzt auch bei und bei .
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