Andrea Ypsilanti blickt zurück und nach vorn. Keine Zukunft ohne Vergangenheit. Dieses Verständnis von Politik hatte die SPD-Politikerin bereits in einem Beitrag im Januar 2011 ausgedrückt, der in der Frankfurter Rundschau und im Vorwärts erschien. Und sie denkt über die eigenen Parteigrenzen hinaus. In der aktuellen Ausgabe des Sozialismus analysiert sie unter der Überschrift “Linke Litanei – ein Versuch der Einordnung” die Situation der politischen Linken in Deutschland, ihre gegenwärtige Stellung in Politik und Gesellschaft und ihre Potenziale.
Eine zentrale Einschätzung nimmt Ypsilanti in ihrem Artikel gleich vorweg: Gegen diese Linke hat man es nicht schwer.
Ein Hauptproblem aus Ypsilantis Sicht: Die politische Linke, die sie als “das progressive Lager” einordnet, “findet nicht zusammen”. Weder auf Landes- noch auf Bundesebene. Und das, obwohl “es seit den 1990er Jahren eine strukturelle Mehrheit jenseits von CDU/CSU/FDP sowohl auf Bundes- als auch Landesebenen” gibt, so Ypsilanti. Um dies zu verdeutlichen zeichnet sie die Entwicklung auf Bundes- und Landeseebene nach. “Die Verantwortung dafür trägt zumeist die SPD”, stellt sie ernüchtert fest.
Die den bisher gescheiterten Bündnissen zugrundeliegenden Aversionen zwischen rot-rot und grün-rot attestiert Ypsilanti Irrationalität und fördert hierzu einen interessanten Vergleich zutage: “Besonders augenfällig wird dies, wenn man bedenkt, dass sich die SPD niemals so vehement gegenüber der FDP abgrenzt, obwohl die programmatischen Schnittmengen minimal sind.”
Dass die SPD-Linke bis heute nicht zum Zuge kommt und nicht in der Lage ist, sich in der eigenen Partei mehr durchzusetzen, begründet Ypsilanti unter anderem mit der “verpassten Verweigerung” gegen die Agenda 2010 und aktuell gegen den Fiskalvertrag.
Ypsilanti relativiert diese Kritik allerdings, mit kritischem Blick auf Stimmen aus der Partei und Fraktion Die Linke, und beginnt gleichzeitig, nach vorn zu schauen: “Nun wäre es relativ einfach, die Verantwortung für das ´Misslingen´ alleine der SPD zuzuschreiben. Der klassische Verratsvorwurf hilft vielleicht in Wahlkämpfen, aber in der Praxis kaum weiter. Interessanter ist es, die unterschiedlichen Widersprüche und Tendenzen der progressiven Parteien auf ihr positives Reformpotenzial hin zu untersuchen.”
Auch “dem härtesten ´Fundi´”, so Ypsilanti, müsse schließlich klar sein, dass eine alternative Politik ohne die Sozialdemokratie nicht zu machen ist. Sie kritisiert in diesem Zusammenhang Teile der Linken, die zu sehr auf Abgrenzung gegen die “bösen Sozis” setzten.
Es folgt eine ausführliche Einschätzung der Linken in der Sozialdemokratie. Auf Bundesebene sei ihr Einfluss immer noch begrenzt. Ein Grund dafür, so Ypsilanti, liegt in der Zurückhaltung, im “Schweigen” der Linken innerhalb der SPD und auch der Grünen: “Die Verweigerung der Diskussion um andere linke Optionen wirkt parteipsychologisch als eine Fortsetzung der ´Basta Politik´, denn die Gefahr besteht, dass sie als ´Dogma´ geradeau in die Große Koalition führt. Die SPD-Linke schweigt dazu, ebenso übrigens wie die Grünen. Beide könnten es besser wissen.”
In Ypsilantis durchaus kritischer Bewertung der zurückliegenden Wahlergebnisse erscheint mir allerdings die positive Bewertung des Wahlergebnisses von Hannelore Kraft zu verkürzt: “Aber außer in NRW, wo Hannelore Kraft nach einer erfolgreichen Tolerierung das Kümmerer-Image neu beleben konnte, blieben die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen.” Wirtschaft und Gesellschaft hat darauf hingewiesen, dass Hannelore Kraft, trotz absolut mehr Wahlberechtigter, weniger Stimmen bekam, weniger Wähler mobilisieren konnte, als Peer Steinbrück bei seiner historischen Wahlniederlage in NRW. Kraft ist auch eine ausgewiesene Agenda-2010-Anhängerin, wollte im vorletzten Wahlkampf Hartz IV Empfänger sogar noch die Straße fegen lassen und wendet sich auch nicht gegen die Sanktionspraxis von Hartz IV. Sie ist damit auch in keinem Fall ein Hoffnungsschimmer für eine alternative Politik, was Ypsilanti allerdings auch nicht ausdrückt.
“Die Malaise der sozialdemokratischen Linken ist ihre Sinnblockade”, so Ypsilanti weiter. Daraus erklärt sie auch zum Teil die Distanzierung der Wähler von “progressiven Parteien” (SPD, Grüne, Linke), die eben zu sehr das Mittel – die Macht – zum Zweck erhoben hätten.
Ausgehend von ihrer parteipolitischen Analyse geht Ypsilanti über zu einem breiteren Verständnis der gesellschaftlichen Situation und bezieht unter anderem die Entwicklung sozialer Bewegungen mit ein. Nüchtern stellt sie fest, dass sich, trotz Krise des Kapitalismus und verbreiteter Kritik selbst in konservativen Kreisen, die “politische Praxis” nicht geändert habe und belegt dies mit der Austeritätspolitik in Europa und der breiten Zustimmung zum Fiskalpakt.
“Mut und Kraftlos” daher komme im Vergleich dazu “der sozialdemokratische Appell für ein soziales Europa mäandernd durch das Feuilleton. Jürgen Habermas, Julian Nida-Rümelin und Peter Bofinger präsentieren solide Textbausteine, aber keine fundierte Kritik der europäischen Krise. Die ´linke´ Kritik Sahra Wagenknechts wirkt, um es mit Marx und nicht Erhard zu sagen, sentimental.”
Ein Rückschluss Ypsilantis mit gleichzeitiger Handlungsdevise: “Der deutschen parlamentarischen Linken fehlt der Mut zu einer Kapitalismus-Kritik. Dabei verpasst sie auch noch ihre Chance, sich mit der ´Bewegung´ zu verbünden, ihre Kritik und Analyse, ihre alternativen Vorschläge aufzugreifen, für die politische Praxis tauglich zu machen und damit ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Dabei wäre es mutig, zunächst die richtigen Fragen zuzulassen.”
Vor diesem Hintergrund entwirft Ypsilanti schließlich Ansätze “linker Gegenhegemonie” und greift dabei auch auf Erfahrungen und Konzepte des von ihr mit entwickelten Instituts Solidarische Moderne zurück. Ein zentraler Gesichtspunkt für sie dabei: “Die Chance zur Gegenhegemonie bekommt die gesellschaftliche Linke nur, wenn sie begreift, dass Abgrenzungsrituale in die Sackgasse führen.”
Andrea Ypsilanti hat erneut einen bemerkenswerten Aufsatz verfasst, der die Diskussion innerhalb und zwischen den Parteien SPD, Grüne und Linke, beleben könnte, wenn, ja wenn weitere Beteiligte dazu den Geist, den Mut und den Willen aufbringen und ihrerseits kritisch zurückschauen und nach vorne blicken. Hier jedenfalls hat sich jemand zurückgelehnt und einmal wieder grundsätzlich nachgedacht. Eine Seltenheit im Politikbetrieb insgesamt.
—
Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine Ich freue mich über jedes “Gefällt mir”. Kommentare sind auch sehr willkommen.
Wenn nur 100 Wirtschaft und Gesellschaft abonnieren…
Dieser Text ist mir etwas wert
|
|