Ein spontaner Konzertbesuch…
Es ist Sonntag. Nehmen Sie sich etwas Zeit. Ich hole etwas weiter aus. Gestern habe ich mich spontan entschlossen, ein Konzert im Französischen Dom zu besuchen. Die türkische Geigerin, Hande Özyürek, war dort zu Gast, gemeinsam mit dem Ensemble Berliner Camerata. Das Programm war ganz nach meinem Geschmack. Bekanntes und Unbekanntes, eine Uraufführung gar. Zunächst eines meiner Lieblingsviolinkonzerte von Mozart, das Violinkonzert Nr. 5 A-Dur, KV 219, auch als „Türkisches Konzert“ bekannt. Doch was schreibe ich, sie sind schließlich alle wunderbar.
Lebhaft spielte Hande Özyürek das Allegro aperto, einfühlsam das Andante; richtig aufblühen ließ sie jedoch erst das Rondeau. Vielleicht waren einige Unsicherheiten an der ein oder anderen Stelle im Spiel dieser virtuosen Komposition. Na und! Wie schön, wie lebendig. Bei einigen Passagen musste ich an den Geiger Pinchas Zukermann denken, dessen Aufnahmen der Violinkonzerte ich besonders ins Herz geschlossen habe.
Und dann die Uraufführung. Ein Arrangement des türkischen Volksliedes Elif Dedim Be Dedim des Komponisten Hasan Ucarsu. Überraschend und bewegend, als Hande Özyürek begann zum Ton ihrer Violine ihre Stimme zu erheben; da klang es tatsächlich, trotz des modernen Gewands, wie eine alte Volksweise. Leider konnte ich im Internet keine Übersetzung des Textes finden. Dass es so etwas noch gibt!
Nach einer fünfzehnminütigen Pause spielte dann die Berliner Camerata auf, die Serenade G-Dur, besser bekannt als Eine kleine Nachtmusik. Wer möchte die schon noch hören, dachte ich für einen kurzen Augenblick, doch weit gefehlt: die Spielfreude und das Zusammenspiel dieses Kammerorchesters, die Präzision und Klarheit, das Tempo und die Klangdichte und -transparenz zogen mich von der ersten Note an in ihren Bann. Zehn Musikerinnen und Musiker unter der Leitung der zauberhaften Olga Pak sind eine Klasse für sich. Das zeigten sie auch in der anschließenden Sinfonie Nr. X in h-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy und in dem irrwitzigen, aber immer noch musikalischen Tempo der Zugabe, die die Berliner Camerata durch den Französischen Dom jagte, dessen Akustik wie gemacht zu sein scheint für Kammerkonzerte dieser Art.
Was hat das alles mit Wirtschaft und Gesellschaft zu tun, werden die fragen, die bis hierhin gelesen haben. Gemach. Gemach. Es ist Sonntag. Und stellen Sie sich einmal vor – auch wenn es darum im Folgenden gar nicht vorrangig gehen soll -, die 17 Regierungschefs der Euroländer würden so zusammenspielen wie diese zehn! Gut, das will geübt sein – das Vorstellen und das Zusammenspiel. Zurzeit scheint es ja nicht einmal eine gemeinsame Partitur zu geben, und jeder meint seine eigene Melodie spielen zu dürfen, ohne auf das zu hören, was der andere spielt, oder an das zu denken, was einmal als gemeinsame Komposition gedacht und notiert war. Ein grässlicher Lärm ist die Folge, kein Kon-zert, sondern ein Kontra-zert, ein schreckliches Gegeneinander, bei dem die leisen, schwachen Stimmen fortlaufend verlieren, sich schließlich gar nicht mehr Gehör verschaffen können. Die größten und schrillsten Misstöne dröhnen nur unweit des Französischen Doms aus dem Reichstag, dem Deutschen Bundestag.
…fördert Überraschendes zutage…
Da ich etwa zehn Minuten vor Konzertbeginn auf der Empore Platz genommen hatte, hatte ich Zeit – Zeit! -, im Gemeindebrief der Evangelischen Kirchengemeinde in der Friedrichstadt von Juli/August 2012 zu lesen, der am Eingang zum Mitnehmen auslag. Und der offenbarte gleich in mehrerer Hinsicht Erstaunliches und Nachdenkenswertes. Und zwar nicht nur für Menschen, die sich der Kirche zugehörig fühlen.
Oben rechts auf der Titelseite steht die Jahreslosung 2012: „Der Herr hat mir gesagt: Die Kraft kommt in Schwachheit zum Ziel. 2. Korinther 12,9“. Darunter der Monatsspruch: „Mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen. Markus 4,24.“
Die einleitenden Worte des Pfarrers Matthias Loerbroks laden förmlich dazu ein, mit diesen beiden Losungen die Gegenwart zu interpretieren. Und die Gegenwart ist, wie die Vergangenheit und die Zukunft, immer persönlich, aber eben auch politisch. Lässt die Politik unseren Alltag doch nicht unberührt, greift im Gegenteil tief in ihn hinein.
…die vielen abgekämpften Gesichter…
In diesem Moment des Schreibens kommt mir in den Sinn, worüber ich am Freitag, Vorgestern also, bereits schreiben wollte, es dann aber doch versäumt habe zu tun. Was Du heute kannst besorgen… Am Freitag Vormittag nämlich fielen mir, als ich meine gewohnte Runde mit meiner alten Labrador-Hündin ging, wieder einmal die vielen abgekämpften Gesichter auf, die mir entgegen kamen. Was diese Menschen wohl wieder für eine Woche hinter sich hatten? Die Mundwinkel nach unten gezogen, so, als hätten sie lange, allzu lange nichts mehr zu lachen gehabt, der Blick mit leblosen Ausdruck starr nach vorn gerichtet. Nicht einmal die Vorfreude auf das Wochenende schien sie zu beleben und aufzuheitern. Vielleicht hatten sie keines vor sich, oder die Gedanken waren schon wieder beim Montag, den John Steinbeck doch einmal „das Tor zur Woche“ genannt hatte, in seinem „Tagebuch eines Romans“. Für viele ist dieses Tor wohl längst zum Gitter geworden.
…”die Kraft kommt in Schwachheit zum Ziel”…
Als ich einer Freundin heute früh jene Jahreslosung vorlas, schwieg sie eine Weile, nippte an ihrem Kaffee und sagte dann: Siehst Du. Erinnere Dich doch mal, vor einem Jahr, genau vor einem Jahr…Einen Monat, drei Wochen und drei Tage“, sie sang mir diese Worte in mein Ohr, „hast Du auf Dein Arbeitszeugnis warten müssen – wie oft musstest Du es wegen fehlender Wörter und anderer Fehler zurückschicken, fünf oder sechs Mal? Und Du hast trotzdem keinen großen Lärm drum gemacht. Und heute: ich sage Dir, es stimmt: Die Kraft kommt in Schwachheit zum Ziel.“
Ich wendete ein: „Und was ist mit Griechenland, Portugal, Spanien…“ Sie unterbrach mich und protestierte: „Ach, du musst immer gleich politisch werden.“ „Nun ja“, erwidere ich und beginne aus den einleitenden Sätzen des Gemeindebriefes zu lesen.
…Vielstimmigkeit erschwert Fundamentalismus…
„Es ist gut, hilfreich, es ist auch befreiend“, beginnt Pfarrer Matthias Loerbroks, „dass es die Jesusgeschichte in der Bibel in vier verschiedenen Versionen gibt. Das erschwert ein fundamentalistisches Bibelverständnis – Sätze wie ´Jesus hat gesagt´ oder ´die Bibel sagt´ sind angesichts dieser Vielstimmigkeit meist nicht sinnvoll. Das ermutigt uns dazu herauszufinden, was sie in unserer Situation bedeuten, und das ist ja auch der Grund, warum es Predigten gibt. In unseren Gottesdiensten werden die alten Texte der Bibel nicht nur vorgelesen, sondern auch interpretiert, auf heute bezogen.“
„Übertrage das doch mal auf die Politik und die Eurokrise“, sage ich jetzt zu Sabine. „Und die Wirtschaftswissenschaften“, ergänzt sie und sagt: „Stell Dir vor, selbst die Jesusgeschichten in der Bibel kennen vier Versionen“, und dehnt die Zahl vier, dass es klingt wie ein müdes Gähnen. „Die Theologie des Marktes kennt doch aber in der herrschenden Wirtschaftslehre und auch in der Politik nur eine Version: ihm zu dienen!“ „Heute haben wir eben das Markt-Evangelium“, werfe ich in Anlehnung an das Markus-Evangelium ein. „Müsste der Markt aber nicht endlich wieder uns dienen, nachdem dieser ´Markt“, sie setzt dabei mit ihren Zeigefingern Gänsefüßchen in die Luft, „uns nun schon seit Jahren ausnimmt wie eine Weihnachtsgans?“ „Darf ich kurz weiterlesen?“, frage ich und schiebe noch grinsend „sei doch nicht immer gleich so politisch“ hinterher.
„Das Jesus-Wort, das uns als Monatsspruch durch den Juli begleitet, ist von den Evangelisten Matthäus und Markus recht verschieden verstanden worden…“ „Siehst Du, das meine ich“, seufzt Sabine dazwischen, „Meinungsvielfalt, die Bibel kennt und anerkennt sie anscheinend, wir nicht.“
„Matthäus“, lese ich unbeirrt weiter, „hat es als eine Warnung davor gehört, andere zu richten, über andere zu urteilen und am liebsten: andere zu verurteilen.“
„Griechenland“, wirft meine Freundin schnell ein. „Und so hat er dieses Wort in der Bergpredigt in diesen Zusammenhang gestellt: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Die strengen Maßstäbe, mit denen ihr andere messt, werden die anderen, wird womöglich auch Gott, euch anlegen…Diese Warnung vorm Richten ist gewiss nötig, denn wir neigen dazu, hoffen vielleicht sogar, uns zu entlasten, indem wir andere belasten, uns erhaben zu fühlen, wenn wir andere runterputzen, uns reinzuwaschen, indem wir andere anschwärzen“, bringe ich die Passage zu Ende.
…Ermutigung zur Großzügigkeit, Großherzigkeit…
„Wie für die CSU – die Christlich Soziale Union – verfasst“, sagt Sabine jetzt. „Und nicht nur die“, gebe ich zurück und lese weiter. „Markus hingegen, und seine Version soll uns in diesem Monat Weisung geben, hört eine verheißungsvolle Einladung, eine Ermutigung zur Großzügigkeit, Großherzigkeit. Sie lohnt sich, macht sich bezahlt.“
„Das wäre die richtige Predigt, um im Bundestag gehalten zu werden“, meint Sabine jetzt, „stell Dir mal vor, Merkel hätte Samaras mit dieser Philosophie im Kopf empfangen.“
…Verständnis, Nachsicht, Einfühlungsvermögen, Geduld und Humor…streitet nicht auf Dauer…
Ich lese weiter. „Wer anderen, auch den schwierigen, seltsamen, wunderlichen Anderen gegenüber Verständnis, Nachsicht, Einfühlungsvermögen, Geduld und Humor aufbringt, hat was davon, kann darauf zählen, wird erleben, selbst freundlich beurteilt zu werden. Markus rechnet nicht nur mit einem Äquivalent – wie ich dir, so du mir -, sondern mit einem Plus, fügt hinzu: man wird euch noch etwas dazugeben. Und er stellt einen seltsamen Satz diesem Wort von den Maßstäben voran: Seht, was ihr hört! Wir hören in der biblischen Botschaft: erbarmend und gönnend ist der Herr, geduldig und voller Gnade; er streitet nicht auf Dauer und trägt nicht noch in die Zeiten hin; er tut uns nicht nach unseren Sünden, macht uns nicht fertig wegen unserer Fehler (Psalm 103,8-10). Wer das beherzigt, bekommt auch was zu sehen, sieht daraufhin auch andere als Menschen an…wird selbst gnädiger und barmherziger mit anderen, auch mit sich selbst. Denn nach biblischer Auffassung macht Liebe nicht blind, sondern sehend, öffnet mir die Augen für meine Mitmenschen…“
„Schön“, sagt Sabine, als ich vom Text aufschaue und ihr in die Augen sehe. „Finde ich auch“, stimme ich ihr zu.
Jetzt, wo ich wieder allein an meinem Schreibtisch sitze, lese ich noch etwas weiter in diesem Gemeindebrief, den ich mir am Vorabend aus dem Französischen Dom mit nach Hause genommen habe. Er enthält auch noch eine Rubrik „Aus dem Gemeindeleben“. Und was ich da entdecke, scheint mir an dieser Stelle nun auch wirklich erwähnenswert; hat Wirtschaft und Gesellschaft das zugrundeliegende Ereignis doch selbst schon thematisiert, freilich in einem anderen Kontext.
…Hartz-Gesetze im Französischen Dom…”Höhere Weihen für Hartz IV”
In der Gemeinde, so ist dem Text von Pfarrer Stephan Frielinghaus zu entnehmen, wird derzeit das Für und Wider einer „Zusatznutzung von Kirchengebäuden“ diskutiert. Und dazu lese ich dort, „dass die Veranstaltung zur Bekanntgabe der sogenannten Hartz-Gesetze nicht vom Veranstaltungsmanagement akquiriert worden ist. Sie fand vielmehr auf Betreiben des damaligen Präsidenten der Evangelischen Akademie, Robert Leicht, bei uns statt – und hat uns Hohn und Spott in der Presseberichterstattung (´Höhere Weihen für Hartz IV´) eingetragen, damals, und jetzt nach zehn Jahren noch einmal. Unsere Kirchen predigen auch dann, wenn gerade keine Gottesdienste in ihnen stattfinden, jede auf ihre Weise… Das tun sie aber nur, wenn man sie lässt und ihre Integrität nicht verletzt oder beschädigt. Es bleibt mein Anliegen, dass wir das stets mit bedenken, auch in Zeiten knapper Kassen, wenn wir darüber entscheiden, welche Veranstaltungen bei uns durchgeführt werden dürfen und welche nicht.“
…Kirche weiter als SPD?…
Ein glatter Rauswurf gewissermaßen, zehn Jahre nachdem die Hartz-Gesetze dort, im Französischen Dom, großspurig angekündigt worden waren. Auch hier scheint mir die Kirche, diese Gemeinde jedenfalls, deutlich weiter, fortschrittlicher und selbstkritischer zu sein als die politischen Verantwortungsträger. Die Kirche, zumindest in diesem zentralen Punkt, undogmatischer als die Sozialdemokratie? Unglaublich – aber wahr. Man überlege nur einmal, die SPD würde so mit ihrer Vergangenheit ins Gericht gehen – oder Robert Leicht; ich wusste zuvor gar nicht, dass der ehemalige Chefredakteur und heutige politische Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit auch Präsident der Evangelischen Akademie war und für jene sozialpolitische „Blasphemie“ im Französischen Dom verantwortlich zeichnet. Hätte Robert Leicht sich zu Hartz IV so weise Gedanken gemacht, wie sie diese beiden Pfarrer in dem Gemeindebrief zum Ausdruck bringen, vielleicht wäre er nicht nur nicht auf die Idee verfallen, den Hartz-Gesetzen den Weg auch noch über die Kirche “den Segen” zu erteilen, sondern hätte sogar Widerspruch angemeldet.
Einen schönen, nachdenklichen und besinnlichen Sonntag wünsche ich allen,
Florian Mahler
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