Diese Art Mitteilung ist in letzter Zeit häufiger zu lesen, Grund genug, ihr einmal auf den Grund zu gehen: “Immer mehr Deutsche schulden Kassenbeiträge“, heißt es in einer Überschrift des Spiegel heute. Und: “Oftmals zahlen jedoch Selbständige, Arbeitslose und verarmte Personen ihre Beiträge nicht.”
Ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD, seines Zeichens Gesundheitspolitiker, sagte mir gerade vor einer Woche in einem Gespräch, in dem ich ihn eben auf das im Folgenden erläuterte Problem aufmerksam machte und in dem wir uns darüber hinaus über die generelle Kommerzialisierung des Gesundheitssystems in Deutschland unterhielten, die spätestens mit Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder 1998 um sich gegriffen hat wie eine Seuche, selbstkritisch: “Die SPD muss wieder Politik aus Sicht der Betroffenen machen.” Wohl wahr. Zur Zeit scheint “die alte Tante” SPD oder zumindest ihre Partei- und Fraktionsspitze in der Wirtschafts- und Sozialpolitik noch weit, allzu weit von diesem richtigen Anspruch entfernt.
Dass gerade Selbständige – ich rede hier von “kleinen Selbständigen” – oftmals ihre Kassenbeiträge nicht zahlen liegt in meinen Augen an der so genannten Mindestbeitragsbemessungsgrenze, die neben ihrer wirklichkeitsfernen Höhe noch dazu auf eine generell schreiende Ungerechtigkeit bzw. Ungleichbehandlung im Gesundheitswesen verweist.
Viele werden die so genannte Beitragsbemessungsgrenze in den Sozialversicherungen kennen, wenige nur aber die Mindestbeitragsbemessungsgrenze. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt in der Krankenversicherung aktuell (2012) bei 3825 Euro. Nach ihr werden die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung – unabhängig von den persönlichen Einkommensverhältnissen – berechnet. Wer mehr – egal wie viel – als 3825 Euro monatlich verdient, wird für das darüber liegende Einkommen nicht weiter herangezogen. Keine Rolle spielen auch private Vermögen.
Für Selbständige gilt wiederum eine gesetzlich festgelegte Mindestbeitragsbemessungsgrenze. Sie beträgt aktuell (2012) monatlich 1968,75 Euro. Der Gesetzgeber geht also tatsächlich davon aus, dass jeder Selbständige jeden Monat ein Einkommen von nicht weniger als 1968,75 Euro verdient.
Das ist natürlich völlig irre! Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) verdienen rund 30 Prozent der Selbständigen weniger als 1100 Euro. Würde man diese Einkommensgrenze bis zur Mindestbeitragsbemessungsgrenze von 1968,75 Euro ausdehnen, wäre der Anteil natürlich noch deutlich höher. Das Institut für Mittelstandsforschung kommt zu ähnlichen Ergebnissen. In dem Bericht der Süddeutschen Zeitung heißt es außerdem:
“Wenn es um Selbständige geht, ist oft von ´Kümmer-Existenzen´ die Rede. Darunter versteht man Solo-Unternehmer ohne Angestellte, deren Verdienst nur knapp über oder sogar unterhalb des Existenzminimums liegt, so dass sie ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssen.”
Der euphorische Ton der Süddeutschen Zeitung geht also völlig fehl! Die Zahlen aber sind nützlich. 4,3 Millionen Selbständige soll es in Deutschland geben. Nehmen wir also, ausgehend von den 30 Prozent der Selbständigen, die weniger als 1100 Euro verdienen, ganz willkürlich an, dass rund 40 Prozent der Selbständigen ein Einkommen unter der gesetzlich festgelegten Mindestbeitragsbemessungsgrenze verdienen, dann sind offensichtlich schon einmal rund zwei Millionen Selbständige in der Bredouille, dass ihre Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung eine unangemessene Belastung im Verhältnis zu ihrem wirklichen Verdienst darstellt. Wem die 40 Prozent zu willkürlich sind, der nehme halt die 30 Prozent. Dann sind immer noch 1,3 Millionen Selbständige betroffen. Der sich daraus ergebende monatliche Mindestbeitrag beträgt 293 Euro für die Krankenversicherung und 43 Euro für die Pflege, zusammen also: 336 Euro bzw., auf 1100 Euro gerechnet, 30,5 Prozent des Nettoeinkommens. Für viele, nämlich die, die weniger als 1100 Euro monatlich verdienen, ist die Belastung noch deutlich höher.
Nicht die Versicherungspflicht ist daher das Problem, wie der Spiegel schreibt. Es sind die unterstellten, unrealistischen Beitragsbemessungsgrundlagen bzw. die Mindestbeitragsbemessungsgrenze.
Möchte aber ein Selbständiger einen “Antrag auf Beitragsentlastung für hauptberuflich Selbständige” einreichen, dann spielt plötzlich nicht länger nur die Höhe des Einkommens eine Rolle, sondern auch das Vermögen. Und letzteres darf, um in den Genuss eines ermäßigten Beitragssatzes zu kommen, nicht den “Freibetrag in Höhe des Vierfachen der monatlichen Bezugsgröße (2012 = 10.500 Euro)” übersteigen. Was aber sind Ersparnisse von 10.500 Euro! Nichts, um ehrich zu sein. Ein kleines Polster in der Not. Zum Vermögen, das für diese 10.500 Euro herangezogen wird, zählen übrigens nicht nur Bank- und Sparguthaben, Bargeld, Wertpapiere, Aktien und Aktienfonds, sondern auch Kapitallebensversicherungen, private Rentenversicherungen und Bausparverträge; ebenfalls hinzugerechnet werden bebaute oder unbebaute Grundstücke, Hausbesitz (z.B. ein Ein- oder Mehrfamielienhaus), Eigentumswohnung, Kraftfahrzeuge (Auto und Motorrad) sowie sonstige Vermögensgegenstände (z.B. Wertsachen, Gemälde, Schmuck).
Und selbst, wenn man diese Bedingungen allesamt erfüllt, sinkt die Mindestbeitragsbemessungsgrenze immer noch nicht unter monatlich 1312,50 Euro (2012) bzw. den “60. Teil der monatlichen Bezugsgröße”.
Noch Fragen?
Gleichzeitg darf jemand Millionen im Monat oder im Jahr, ja sogar Milliarden verdienen, ohne jemals mehr zahlen zu müssen, als es die Beitragsbemessungsgrenze (2012: 3825 Euro) vorschreibt. Von der Heranziehung größer Vermögen als Berechnungsgrundlage ganz zu schweigen.
So etwas können sich nur realitätsferne, den sehr gut verdienenden und vermögenden Schichten verpflichtete, nicht aber an gerechten, an Gleichbehandlung aller interessierte Politiker ausdenken und in Gesetzesform gießen. Es ist in meinen Augen ein echter Gesundheitsskandal! Ach, eines noch: Selbst bin ich noch nicht säumig geworden bei der Zahlung meiner Kranken- und Pflegeversicherung. Politik sollte aber in der Tat immer dazu in der Lage sein, Gesetze aus Sicht der Betroffenen zu machen, auch ohne selbst betroffen zu sein.
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