“Das erste Gefühl, was die Betroffenen haben müssen, ist, dass ihnen Unrecht widerfährt.” – Im Gespräch mit Franziska Drohsel
Franziska Drohsel

Die frühere Juso-Vorsitzende, Franziska Drohsel, im Gespräch mit Wirtschaft und Gesellschaft, über ihre Berufspraxis als Anwältin, die Hartz IV Beziehende vertritt, über die damalige Stimmung bei der Durchsetzung von Hartz IV, das Innenleben der SPD, das Institut Solidarische Moderne und die Perspektive einer rot-rot-grünen Koalition.

Florian Mahler: Beginnen wir mit der beruflichen Gegenwart: Was kennzeichnet Ihre Arbeit als Anwältin?

Franziska Drohsel: Meine Arbeit als Anwältin ist dadurch gekennzeichnet, dass ich meinen Beruf in einem politischen Kontext ausübe und mit einem politischen Anspruch verbinde. Ich habe mich jetzt überwiegend auf das Sozialrecht konzentriert und vertrete dabei insbesondere Menschen, die nicht so viel Geld haben, teilweise im Leben Pech gehabt haben, die Schwierigkeiten haben, mit Behörden klar zu kommen bzw. den Anforderungen, die dort an sie gestellt werden, nachzukommen. Darunter sind viele Hartz IV Empfänger. Im Rahmen meiner Arbeit zeigt sich, dass das, was ich früher politisch oft beklagt habe, in der Praxis teilweise noch schlimmer ist, sowohl was die Gesetzgebung anbelangt, als auch was die Ausführung durch die Jobcenter angeht.

Kann man zugespitzt sagen: Ihre Mandanten sind Opfer von Hartz IV?

Ich habe nicht nur Mandanten, die Hartz IV beziehen. Von denen, die Hartz IV beziehen, muss man aber schon sagen, dass diese großes Pech haben, sie sich so einem repressiven und unsozialen Regelungswust unterwerfen zu müssen.

Warum haben Sie sich dieses doch recht traurige Feld in der Juristerei gewählt? Sporen und viel Geld lassen sich doch besser als Strafverteidigerin oder im Unternehmenssektor verdienen?

Ich habe Jura immer mit der Perspektive studiert, dass ich später Anwältin werde und Menschen helfen möchte, die es nicht so leicht haben. Bei mir hat sich jetzt das Sozialrecht herauskristallisiert. Dabei finde ich gut, dass ich das, was mich auch politisch bereits viel umgetrieben hat – die unsoziale Hartz IV Gesetzgebung -, dass ich diese Auseinandersetzung jetzt auf einer juristischen Ebene weiterführen kann.

War das also ein notwendiger Schritt: Von der Juso-Vorsitzenden zur Anwältin der Schwachen?

Ein gewollter Schritt.

Was kennzeichnet Ihre Mandanten bzw. Ihre Fälle?

Meine Mandanten sind in der Regel davon betroffen, dass sie entweder zu wenig Leistungen erhalten, also das beispielsweise Teile der Kosten für Unterkunft nicht übernommen werden, oder sogar gar keine.

Beispielsweise ist aktuell umstritten, wie man mit EU-Ausländern umgeht, ob sie Anspruch darauf haben, dass sie Leistungen nach dem SGB II bekommen oder ob sie Anspruch auf Sozialhilfe haben oder gar nichts von beiden. Das ist eine Frage, die sehr viele Menschen betrifft. Ich halte es für notwendig, dies europaweit zu vereinheitlichen. Wenn es Freizügigkeit in Europa geben soll, dann muss es auch die Möglichkeit geben, dass man Sozialleistungen in anderen Ländern als dem Herkunftsland bekommen kann.

Wie ist die Entscheidungspraxis dahingehend? Entscheiden die Jobcenter individuell, nach eigenem Gutdünken?

Die Praxis in den Jobcentern ist verschieden und die Gerichte entscheiden ebenfalls unterschiedlich. Das Bundessozialgericht hat 2010 entschieden, dass Menschen, die aus einem Land kommen, was das Europäische Fürsorgeabekommen unterzeichnet hat, Leistungen nach dem SGB II bekommen müssen. 2011 hat die Bundesregierung zum Europäischen Fürsorgeabkommen einen Vorbehalt hinsichtlich der SGB II-Leistungen erklärt. Und eben hier ist es zurzeit umstritten, ob dieser Vorbehalt wirksam ist oder nicht. Das ist höchstrichterlich noch nicht entschieden.

Interessant. Was bestimmt darüber hinaus Ihre juristische Arbeit im Zusammenhang mit Hartz IV; warum bekommen Hartz IV Bezieher zum Beispiel teilweise kein Geld oder weniger als den normalen Regelsatz?

Teilweise ist es für die Betroffenen schwierig, den Anforderungen der Jobcenter nachzukommen. Es gibt Mitwirkungspflichten der Betroffenen, die das Beibringen etlicher Belege beinhalten. Da kann man schon einmal den Überblick verlieren. Auch bestimmte Fristen zu erkennen und diese einzuhalten, ist nicht so einfach. Besonders schwer ist die Situation für Menschen, die nicht so gut deutsch sprechen.

Wie finden Hartz IV Bezieher eine Anwältin wie Sie?

Das erste Gefühl, was die Betroffenen haben müssen, ist, dass ihnen Unrecht widerfährt. Der zweite Schritt ist dann, sich professionelle Hilfe zu holen. Viele hält dann immer noch die Angst vor Anwaltskosten davon ab, sich professionellen rechtlichen Beistand zu suchen. Da gibt es aber die Möglichkeit, sich für ein Erstberatungsgespräch vom Amtsgericht einen Beratungshilfeschein zu besorgen. Dann übernimmt der Staat die Kosten für die Erstberatung. Und im Fall einer Klage stellt man einen Antrag auf Prozesskostenhilfe. Dazu muss erneut ein Formular ausgefüllt werden, das der Klage beigelegt wird. Dann können auch für das gerichtliche Verfahren die Kosten vom Staat übernommen.

Ich könnte mir vorstellen, dass das ganz viele nicht wissen.

Das ist richtig. Es gibt darüber hinaus auch viele Beratungsstellen, die kostenlos helfen.

Kümmern Sie sich als Anwältin darum, dass der Staat dann die Kosten übernimmt?

Ja, wir erklären, wie man an einen Beratungshilfeschein kommt oder helfen beim Antrag auf Prozesskostenhilfe. Aber gerade beim Beratungshilfeschein ist es gut, wenn die Betroffenen selber zum Amtsgericht ihres Wohnsitzes gehen. Wenn von einer Anwaltskanzlei dorthin geschrieben wird, können die misstrauisch werden und denken, dass das Erstberatungsgespräch doch schon stattgefunden hat.

Wenn man sich diesen selber holt, muss man erklären, warum man bedürftig ist und in welcher Sache man rechtlichen Rat sucht. Anschließend erhält man einen Stempel auf das Formular, den Beratungshilfeschein. Damit kommt man dann zu uns. Wir rechnen schließlich die Kosten ab.

Ich würde immer noch gern mehr über die Hartz IV Beziehenden  und ihre juristischen Probleme, ihren Anspruch auf Hartz IV geltend zu machen, erfahren. Sie haben auch den Aufruf „Farbe bekennen – gegen entwürdigende Hartz IV Praxis und für berufliche Förderung unterzeichnet“. Warum halten Sie die Sanktionspraxis für besonders problematisch?

Weil ich der Meinung bin, dass es in einer zivilen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass die Existenzsicherung eines jeden Menschen gewährleistet ist. Zur Existenzsicherung gehört, dass man genügend Geld hat, um in dieser Gesellschaft leben zu können. Dazu gehören natürlich Grundbedürfnisse, wie Essen und Trinken und dass man ein Dach über dem Kopf hat, aber eben auch, wie das Bundesverfassungsgericht ja auch entschieden hat, dass ein soziokulturelles Existenzminimum gewährleistet ist, um an dieser Gesellschaft teilhaben zu können. Ich finde es unglaublich, dass Menschen dieses Existenzminimum abgesprochen werden kann, wenn sie bestimmten Sachen, die ihnen auferlegt wurden, nicht nachgekommen sind.

Denn das heißt, dass ein menschenwürdiges Leben nur Personen zusteht, die auch bereit sind, sich bestimmten Bedingungen zu unterwerfen. Ich finde jedoch, dass es solch ein Existenzminimum vorbehaltlos für jeden Menschen geben muss. Wenn der Gesetzgeber sagt, dass dies gerade beim Regelbedarf liegt – über dessen Höhe man auch diskutieren kann – finde ich, muss dann aber zunächst auch jeder diesen Regelsatz bekommen.

Bekommen Sie mit, wie die Menschen leben, wenn sie erst einmal keine Gelder erhalten?

Die müssen sich – es ist absurd aber Realität – Geld leihen, von Bekannten, von der Familie. Was macht man zum Beispiel, wenn ein Mandant ab September kein Geld mehr bekommt? Da kann man  einen Antrag im einstweiligen Rechtschutz stellen. Das ist eine Art Eilverfahren, bei dem die Gerichte zunächst nur summarisch prüfen und dann vorläufig Leistungen bewilligen oder nicht. Wenn das Gericht aber nicht sofort entscheidet, hat der Mandant erstmal kein Geld.

Sie waren Juso-Vorsitzende. Wie haben Sie die Durchsetzung der Hartz-Gesetzgebung erlebt?

Ich war Juso-Vorsitzende von 2007 bis 2010. Ich war jedoch auch bereits in der Zeit der Durchsetzung der Hartz Gesetzgebung politisch aktiv. Ich empfand das damals als eine ganz schreckliche Entwicklung. Wir haben bei den Jusos sehr dagegen gekämpft. Ich war auch bei einer der Regionalkonferenzen dabei, auf denen Gerhard Schröder die Hartz Gesetzgebung aktiv verteidigt hat. Wir haben diese mit Transparenten und Trillerpfeifen gestört, weil wir das Gefühl hatten, dort anders nicht Gehör zu finden bzw. zu Wort zu kommen. Durch diese Aktion haben wir immerhin Rederecht bekommen und ich konnte unsere Kritik vorbringen.

Was hat Schröder geantwortet, „Gedöns“?

Weiß ich jetzt nicht mehr im Wortlaut. Aber es sagt ja schon viel, dass man darum kämpfen musste, dass man überhaupt reden darf.

Was würden Sie sich wünschen in Bezug auf die Hartz Gesetzgebung und natürlich auch auf die SPD?

Ich würde mir in jedem Fall wünschen, dass die Sanktionen komplett abgeschafft werden. Ich finde jeder muss eine Existenzsicherung bekommen, unabhängig davon, ob er sich als arbeitsfähig oder mitwirkungsbereit oder wie auch immer begreift.

Darüber hinaus bin ich Meinung, dass die Regelsätze erhöht werden müssen. Ich finde zudem die Kontrollen, die die Jobcenter gegen Bedürftige ausüben können, bei denen man tatsächlich das Gefühl hat, dass die Kontrolleure ins Schlafzimmer spazieren, um aufzudecken, ob es Bedarfsgemeinschaften gibt oder Wohngemeinschaften, entwürdigend.

Wegen dieser Kontrollen aber können Betroffene Sie nicht aufsuchen, weil die legitim sind?

Man hat zwar keine Pflicht, diese „Hausbesuche“ über sich ergehen zu lassen, aber das Problem ist, dass im Zweifel die Jobcenter sagen können, dass die Menschen nicht wirklich bewiesen haben, dass sie bedürftig sind.

Also hat man faktisch die Pflicht dazu, diese Kontrollen über sich ergehen zu lassen.

Man ist dazu nicht verpflichtet, aber es steht eben die Bedrohung im Raum, sonst nicht als bedürftig anerkannt zu werden.

Mögen Sie noch etwas zum derzeitigen Innenleben der SPD sagen? Wie Sie es wahrnehmen? Wie ist die Partei in Ihren Augen aufgestellt? Gibt es Potenzial, dass die SPD doch noch eine wirkliche Alternative zur Bundesregierung entwickelt und damit auch zu ihrer eigenen politischen Vergangenheit in der Schröder-Agenda 2010-Ära?

Das Potenzial gibt es. Ich finde immer wieder beeindruckend, wenn man an der Basis der SPD unterwegs ist, was für Leute man dort trifft, die an den verschiedensten Stellen für progressive Positionen kämpfen. Da habe ich dann immer das Gefühl, dass das die Mehrheit in der SPD ist, die sich wünscht, dass die SPD tatsächlich wieder für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit steht. Dass sich das mehrheitlich auch in der Parteiführung wiederfindet, das würde ich mir natürlich wünschen, würde dies aber schon noch als dauernde Aufgabe ansehen. Da ist noch viel zu tun.

Könnten Sie sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen?

Ich bin ja nun seit meinem 15. Lebensjahr politisch aktiv und engagiere mich auch jetzt weiter politisch. Auch meine Tätigkeit als Anwältin sehe ich in einem politischen Zusammenhang. Politik ist ja nicht nur, ein Amt zu haben. Jetzt liegt mein Schwerpunkt auf meiner anwaltlichen Arbeit und ich werde sehen, wie es weitergeht. Nur dass ich irgendwann politisch gar nichts mehr mache, das kann ich mir gar nicht vorstellen.

Sie sind auch im Institut Solidarische Moderne aktiv? Eine Schnittstelle zwischen Ihrem jetzigen Beruf und professioneller Parteipolitik für Sie? Was versprechen Sie sich von der Arbeit dieses Instituts? Wirkt es als politische Denkfabrik in die Parteien hinein?

Ich finde die Idee des Instituts weiterhin sehr gut. Dass man Menschen aus dem linken Umfeld, aber aus ganz unterschiedlichen Organisationen und mit unterschiedlichen Denktraditionen zusammenbringt und mit ihnen diskutiert, empfinde ich als sehr gewinnbringend. Es ist interessant, wie in anderen Organisationen politisch gearbeitet wird und wie Themen in den verschiedenen Gruppen diskutiert werden.

Was die Wirkung in die Parteien – SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke – anbelangt, da würde ich mir schon wünschen, dass das noch mehr wird. Und man merkt natürlich auch, dass „crossover“ bzw. die Zusammenarbeit mit Menschen, die unterschiedliche Strukturen in der politischen Arbeit gewohnt sind, eine Herausforderung ist. Aber es ist notwendig und reizvoll, gemeinsam Neues zu entwickeln.

Wenn man irgendwann mal eine ernsthafte Alternative für linke Politik bieten möchte, dann ist es erforderlich, dass man sich über die eigenen Organisationsgrenzen hinaus verständigt.

Damit sprechen Sie auch die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Koalition an?

Ich würde mir jedenfalls schon wünschen, dass die drei Parteien links der Mitte im inhaltlichen Austausch miteinander sind und fände es sehr erfreulich, wenn sie gemeinsame Projekte finden und diese auch in Regierungsverantwortung durchsetzen. Aber da muss noch ein gutes Stück Weg zurückgelegt werden.

Franziska Drohsel war von 2007 bis 2010 Juso-Vorsitzende. Heute arbeitet die promovierte Juristin als Anwältin in Berlin in der Kanzlei Hummel Kaleck. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist Sozialrecht.

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