Paul Kirchhof darf im Deutschlandfunk unwidersprochen seinen radikalen Unsinn verbreiten – eine Einordnung

Vieles, nicht zuletzt die Einleitung, die der Deutschlandfunk dem ausführlichen Interview mit Paul Kirchhof in seiner Online-Ausgabe voranstellt, spricht dafür, dass die Entscheider im Deutschlandfunk selbst an den Unsinn glauben, den Paul Kirchhof heute früh verbreiten durfte:

Angesichts weltweit steigender Staatsschuldenberge und etlicher Rechtsbrüche, diese zu rechtfertigen, bringt der Steuerfachmann Paul Kirchhof einen Gesetzesvorschlag für Deutschland ins Spiel: Für jedes Prozent Neuverschuldung müssten die Staatsausgaben um ein Prozent sinken. So spüre jeder in seinem Portemonnaie die Last der Schulden.” (Kursive Hervorhebung, T.H.)

Von Staatsschuldenbergen zu sprechen ist typisch für eine meinungsmachende oder von einem einseitigen Verständnis bzw. Unverständnis geleitete Berichterstattung, die nicht an einer sachlichen Aufklärung über die Bedeutung von Staatsschulden interessiert ist. Zu einer aufklärenden Berichterstattung gehört, dass zumindest erwähnt wird, dass jedem “Staatsschuldenberg” ein “Vermögensberg” in gleicher Höhe gegenüberstehen muss. Aber wer das einmal begriffen hat, der ist gegen Schlagworte wie “Schuldenberge” und den damit verbundenen Unsinn einer unsachlichen Dramatik bei der Thematisierung von Staatsschulden ohnenhin immun. Der Deutschlandfunk und der Moderator, Jürgen Liminski, der Kirchhof interviewt, sind davon offensichtlich weit entfernt.

Das zweite, zu diesem Sachverhalt perfekt passende Phänomen für Meinungsmache oder schlichte Unkenntnis ist, einen Verfassungsjuristen als “Finanzfachmann” oder “Finanzexperten” zu titulieren. Jeder, der Schulden, natürlich nur Staatsschulden, dramatisiert und für ausgeglichene Haushalte plädiert, wird in den deutschen Medien in gewohnter Regelmäßigkeit zu einem “Finanzexperten” hochstilisiert. Auch das ist völlig unsachlich und ein Beleg für wirkliche Wissensdefizite, die immer wieder leider auch im Deutschlandfunk zu hören sind. Sie verhindern kritisches Nachfragen bei Gesprächspartnern wie Kirchhof. Die wenigen wirklichen Finanz- und Wirtschaftsexperten wiederum, die im Deutschlandfunk oder anderen Medien das platte Gerede über Schulden nicht mitmachen und über den Tellerrand der Staatsschuld hinaus blicken, müssen sich aufgrund eben dieses Wissensdefizites der Journalisten, ständig mit auf diesem Unwissen basierenden, nur vermeintlich kritischen Nachfragen herumschlagen.

Dass Kirchhof definitiv kein “Finanzfachmann” bzw. “Finanzexperte” ist, belegt er selbst. Der Blödsinn, den Kirchhof nun schon seit Jahren predigt, scheint dabei auch seinem neuen Buch – der Titel allein spricht Bände: “Deutschland im Schuldensog” – zugrundezuliegen, auf das ihn Liminski wohlwollend anspricht. Kirchhof lässt sich da natürlich nicht lange bitten und packt sein ganzes Unverständnis der Materie in einen Satz:

“Wir leben gegenwärtig über unsere Verhältnisse, belasten dadurch unsere Kinder, die das alles mit Zins und Zinseszins zurückzahlen müssen.”

Damit dürfte ihm einer der vorderen Plätze in der Bestsellerliste des Spiegel sicher sein. Nichts aber ist an diesem Satz richtig.

“Über unsere Verhältnisse” können wir als Gesellschaft überhaupt nur leben, wenn wir als Volkswirtschaft ein Leistungsbilanzdefizit ausweisen, denn nur dann geben wir insgesamt mehr aus, als wir einnehmen und müssen uns als Gesellschaft bzw. als Volkswirtschaft verschulden. Wie allgemein bekannt ist, weist Deutschland aber seit vielen Jahren Leistungsbilanzüberschüsse aus; wir leben also zweifellos unter unseren Verhältnissen, was uns Arbeitsplätze und Wohlstand kostet.

Wenn Kirchhof, wie es leider und fälschlicherweise üblich ist, meint, wir lebten über unsere Verhältnisse, weil der Staat mehr ausgibt, als er einnimmt, also Haushaltsdefizite und steigende Staatsschulden ausweist, dann ist das schon allein aufgrund der ersten Klarstellung verkehrt. Das Kirchhof diesen Fehler begeht ist offensichtlich. Weil dies aber verkehrt ist, ist auch sein Nachsatz falsch: dass Staatsschulden unsere Kinder belasten würden, “die das alles mit Zins und Zinseszins zurückzahlen müssen.”

Ein Staat kann sich – wie jeder andere Akteur im Wirtschaftsleben – nur dann verschulden, wenn ein anderer Akteur ihm in gleicher Höhe Kredit gewährt, also Staatsanleihen kauft und diese als Vermögen hält. Auch dieses Vermögen wird “mit Zins und Zinseszins” an “unsere Kinder” weitergegeben, so dass auch in der Zukunft jedem Euro Staatsschuld ein Euro Vermögen gegenüberstehen muss.

Was dagegen wirklich “unsere Kinder” belastet, sind irre Konzepte, wie sie jetzt Kirchhof, nachdem er sich bereits mit seiner “Bierdeckelsteuer” vor jedem ernstzunehmenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler lächerlich gemacht hat, auf den Tisch legt. Kirchhof will doch tatsächlich Staatsschulden bekämpfen, indem per Gesetz staatliche Leistungen genau in der Höhe steigender Staatsschulden zurückgefahren werden:

“Wir müssen die Last der Staatsverschuldung gegenwärtig machen, ein Gesetz haben, das sagt, immer dann, wenn der Staat die Schulden um ein Prozent erhöht, sinken alle Staatsleistungen um ein Prozent. Dann spürt jeder in seinem Portemonnaie, dass Schuld eine Last ist für uns und nicht für unsere Kinder.”

Was die Menschen tun, wenn sie Ausgabenkürzungen in ihrem “Portemonnaie spüren”, interessiert Kirchhof und Liminski anscheinend nicht. Es ist aber klar, dass staatliche Ausgabenkürzungen immer besonders diejenigen treffen, die von staatlichen Leistungen, insbesondere sozialen Leistungen abhängig sind. Wenn das überhaupt noch geht, müssen die so Betroffenen ihre Ausgaben ebenfalls kürzen, was über die Unternehmensumsätze auch die Wirtschaft und schließlich über die Steuereinnahmen auch den Staat erreicht. Im Ergebnis, wir können es gerade in extremer Form im Süden Europas beobachten, steigen die Staatsdefizite dadurch weiter, was, wenn es nach Kirchhof geht, bedeutet, die Staatsausgaben weiter zu kürzen. Die explodierte Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern in Folge der staatlichen Ausgabenkürzungen, dürfte jedem klar machen, was solch ein Unsinn, wie Kirchhof ihn ernsthaft fordert, “für unsere Kinder” bedeuten würde. Es war im übrigen der oberste Sparminister der rot-grünen Koalition, SPD-Finanzminister Hans Eichel, der mit dem gleichen Fehlschluss Deutschland 2001 in eine Rezession gespart hat.

Interessant in diesem Zusammenhang auch, dass Kirchhof mit keinem Wort auf die Möglichkeit steigender Staatseinnahmen eingeht, um die Staatsschulden zurückzufahren. Spätestens das verrät ihn als staatsfeindlichen Ideologen: Er will den Staat insgesamt aus dem Wirtschafts- und Sozialgeschehen zurückdrängen.

Schon dieser kurze Ausflug auf grundlegendes ökonomisches Terrain zeigt, dass Kirchhof, ökonomisch betrachtet, entweder ein Ideologe oder ein Dummkopf ist, dessen Rezept jede Gesellschaft sozial und ökonomisch zurückwerfen muss. Dass dieser Unsinn unwidersprochen bleibt, zeigt wiederum, dass sich auch die besten Redaktionen keine ökonomische Grundausbildung leisten.

Kirchhofs weitere Ausführungen zur Bedeutung des Rechts und der Demokratie kann man sich vor diesem Hintergrund getrost schenken. Es sind wohlfeile Worte. Denn unser Rechtssystem und unsere Demokratie haben sich nicht zuletzt deswegen auf ihrem heutigen hohen, aber sicherlich immer noch entwicklungsfähigen Niveau, etabliert, weil der Weg dorthin von einer ökonomischen Entwicklung begleitet wurde, die die ökonomischen und sozialen Spielräume ermöglichte, die schließlich jedes funktionierende Rechtssystem und jede funktionierende Staatlichkeit voraussetzen. Vieles spricht dafür, dass eben jene ökonomischen Entwicklungen der parlamentarischen Demokratie heutigen Zuschnitts vorangingen, ihre Stabilität und Weiterentwicklung erst ermöglichten. Konkret auf die deutsche Geschichte gemünzt ließe es sich auch so fassen: Kirchhofs Rezept fällt hinter die Einsichten Bismarcks zurück. Der amerikanische Soziologe Barrington Moore schrieb in seinem vom Suhrkamp Verlag leider nicht länger aufgelegten Klassiker “Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie”: “Wo der wirtschaftliche Fortschritt größere Ausmaße erreichte, konnten die Industriearbeiter beachtliche Vorteile erzielen, wie in Deutschland, wo die ´Sozialpolitik´ erfunden wurde.” (1) Wer diese Zusammenhänge ausblendet ist auch nicht länger als Staats- und Verfassungsrechtler ernst zu nehmen.

Es ist äußerst bedauerlich, dass der Moderator diesem primitive Gerüst Kirchhofs auch noch mit der Angst vor dem staatlichen “Leviathan” nach dem Mund redet bzw. Kirchhof Stichworte liefert, seine staats- und demokratiefeindliche Ideologie zu präsentieren.

(1) Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt am Main 1974, S. 506

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