Am Stammtisch der Mittelschicht – Von Kathrin Hartmann

Kathrin Hartmann

Warum die Mittelschicht die Armen ärmer und die Reichen reicher macht und damit an ihrer eigenen Abschaffung arbeitet       

Zwischen 2007 und 2012 hat das private Nettovermögen der Deutschen um 1,4 Billionen Euro zugenommen. Mehr als die Hälfte dieses Vermögens besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte. Die untere Hälfte der deutschen Haushalte verfügt nur über ein Prozent des gesamten Netto-Vermögens. Das ist dem Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung zu entnehmen. Drei nüchterne Fakten, die Ungeheuerliches beschreiben: Während die wenigen Reichen immer reicher werden, werden Arme immer mehr und immer ärmer. Ein Sturm der Entrüstung blieb aus. Ebenso eine überfällige Debatte über Armut und Ungleichheit in Deutschland.

Dafür zuckten die Reflexe des Bürgertums wild: “Deutsche werden immer reicher”, titelte die FAZ und schickte hinterher: “Aktuelle Zahlen zur Ungleichheit hat die Bundesregierung aber nicht.” Selbst Heribert Prantl verwies im SZ-Kommentar nur auf Artikel 14 des Grundgesetzes “Eigentum verpflichtet” und schloss mit dem bemerkenswerten Satz: “Zu den Vorzügen des Reichtums gehört, dass man damit viel gegen Armut tun kann.” Als wären Armut und Reichtum Schicksal und nicht zwei Seiten derselben Medaille.

So kam die Debatte schnell bei der Besitzstandswahrung der Mittelschicht zum Stehen. “Mittelschicht in Abstiegsangst – bleiben die Fleißigen auf der Strecke?”, fragte Anne Will. “Wer kann noch in Wohlstand leben?”, raunte Jauch. “High Society oder Hartz IV – wer sind die wahren Asiozialen?”, legte Sandra Maischberger nach. Zu Gast: der unvermeidliche Heinz Buschkowsky, Neuköllner Bürgermeister, Autor des Buches “Neukölln ist  überall” und netter Sarrazin von nebenan, sowie Stern-Redakteur Walter Wüllenweber. Der Zufall wollte es, dass dessen Buch “Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren und wer davon profitiert” nur einen Tag vor Bekanntwerden des Armuts- und Reichtumsberichts erschien und prompt Bestseller wurde. Nach Wüllenweber (“Sozialabbau ist Abbau von Ungerechtigkeit”) sind es die Reichen und Armen, die mit ihrer verkommenen Moral die Mittelschicht ausplündern – nicht etwa ein System, das derartige Ungerechtigkeiten gebiert. “Deutschland befindet sich in Auflösung”, warnt Wüllenweber, allein die Mittelschicht stünde noch für Leistung und zahle für oben und unten.

Die Mittelschicht, der moralische Fels in der Brandung, umtost vom faulem Gesindel, das das Geld der “Leistungsträger” versäuft und verraucht – dieses Bild gefällt den Deutschen gut. Die Hälfte hat eine abwertende Haltung gegen Langzeitarbeitslose. Das belegt die zehnjährige Diskriminierungsstudie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer. Danach ist die Hälfte der Deutschen überzeugt, dass Langzeitarbeitslose nicht wirklich interessiert sind, einen Job zu finden. Zwei Drittel finden es empörend, “wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen.” Dabei liegt die Missbrauchsquote bei Hartz IV bei einem halben Prozent. Ebenfalls die Hälfte glaubt im Ernst, dass die Ursache der Finanzkrise die seien, die den Sozialstaat “ausnutzen”. Als hätten die Hartz-IV-Empfänger ihren Regelsatz für Schuhe an der Börse verzockt und damit den Finanzmarkt zum Kollabieren gebracht!

Je kleiner die gesellschaftlichen Unterschiede, desto mehr grenzen sich Menschen nach unten ab. Gerade weil ein Großteil der Mittelschicht eher am unteren Ende der Einkommensskala angesiedelt ist, rechnet sie sich lieber zu den Millionären. Doch das soziale Stockholsyndrom legitimiert sämtliche politischen Entscheidungen, die der Allgemeinheit nur schaden: Steuergeschenke für Reiche, Abbau von Arbeitnehmerrechten und öffentlichen Leistungen. Die Mittelschicht, die glaubt, Moral und Leistung alleine bereitzustellen, wird umgarnt von Parteien (Wähler!) und Medien (Käufer!), die ihr gern gefallen möchten. Sie ist deshalb der größte Bremsklotz, wenn es um Verteilungsgerechtigkeit geht: sie hält an vermeintlichen Privilegien fest, die nicht ihr, sondern den Reichen zugute kommen. 60 Prozent der Deutschen halten Steuerhinterziehung für ein Kavaliersdelikt, mehr als die Hälfte der Deutschen lehnt eine Erbschaftssteuer ab. Steuererhöhung? Nicht mit der Mittelschicht! Der staatlich alimentierte Großdenker Peter Sloterdijk rief via FAZ die “Leistungsträger” gar zum “fiskalischen Bürgerkrieg” auf.

Die tiefe Kluft zwischen arm und reich lässt sich nur mit dem Gegensatzpaar “Leistungsgerechtigkeit” und “Sozialschmarotzertum” rechtfertigen. Mit dem Zerrbild des faulen Arbeitslosen gelang es der rot-grünen Regierung verlässlich, die weitreichendsten sozialen Einschnitte in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik durchzusetzen. “Niemandem aber wird es künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.” Mit diesen Worten stellte der so genannte Sozialdemokrat Gerhard Schröder 2003 seine Agenda 2010 vor und machte die Opfer zu Tätern. Es folgten Repressionen gegen Arbeitslose, die gegen Grundgesetz und Menschenwürde verstoßen. Davon profitiert die Wirtschaftselite: Nicht nur, dass Langzeitarbeitslose durch miserabel bezahlte Leiharbeit oder andere “Maßnahmen” zu fast kostenloser Arbeit gezwungen werden können: Sie geben die Drohkulisse ab, vor der Unternehmen Löhne weiter drücken können. Heute bekommt jeder vierte Deutsche einen Mindestlohn, knapp eine Million Leiharbeiter arbeitet für weniger Geld und Rechte. 1,4 Millionen Deutsche beantragen zusätzlich Hartz IV, weil das Gehalt nicht reicht. Mit anderen Worten: zehn Prozent der Deutschen haben Arbeit zweiter Klasse, von der sie kaum leben können.

“Anstrengungsloser Wohlstand”, wie ihn Guido Westerwelle und andere notorische Provokateure ausgerechnet den Ärmsten unterstellen: den gibt es nur für Reiche. In ihrem Buch “Hurra, wir dürfen zahlen! Der Selbstbetrug der Mittelschicht” stellt Ulrike Herrmann fest: “Findet die Mittelschicht nicht zu einem realistischen Selbstbild, sondern hängt weiter ihrem Elitedünkel an, wird sie auch weiterhin allein für wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen zahlen.” Heißt: Wenn die Mittelschicht weiter nach unten tritt, anstatt sich mit der so genannten Unterschicht zu solidarisieren, wird weiter von unten nach oben verteilt.

Kathrin Hartmann ist Autorin des Buchs „Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft“, das im Verlag Blessing erschienen ist. Eine Rezension des Buches finden Sie hier: Rezension: “Wir müssen leider draußen bleiben – Die neue Armut in der Konsumgesellschaft” von Kathrin Hartmann.

Wirtschaft und Gesellschaft hat verschiedene Persönlichkeiten in gesellschaftlicher und politischer Verantwortung gebeten, den Entwurf des Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu kommentieren. Bisher haben sich Elke Hannack, Christel Humme, Markus Kurth, Ulrich Schneider und Johannes Ponader zu Wort gemeldet.

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