Armutsbericht der Bundesregierung: Alle Achtung – der politischste aller bisher vorgelegten Berichte – Ein Gastkommentar von Ulrich Schneider

Ulrich Schneider

Wirtschaft und Gesellschaft hat verschiedene Persönlichkeiten in gesellschaftlicher und politischer Verantwortung gebeten, den Entwurf des Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu kommentieren. Nach Elke Hannack, Christel Humme und Markus Kurth, meldet sich Ulrich Schneider zu Wort. Dr. Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

Seien wir ehrlich. Bundesarbeitsministerin von der Leyen hat uns alle überrascht – und gibt uns mit ihrem Armutsbericht auch einige Rätsel auf. Überraschend schon der Zeitpunkt und die Art und Weise, wie der Bericht in das Licht der Öffentlichkeit plumpste. Gänzlich überraschend dann aber auch und vor allem die Botschaften der Ministerin.

Gerade erst hatte sie Parteifreunde und Koalitionspartner verärgert, indem sie ohne Vorwarnung das Thema Altersarmut scheppernd in die Medien beförderte, um Stimmung für ihr Zuschussrentenmodell zu machen. Unter der Überschrift „Mutterseelenallein“ bringt der Süddeutsche-Journalist Thomas Öchsner am 17. September ein Portrait über die Ministerin, schildert seine Eindrücke von einem Besuch in ihrem Büro. Am 19. September kann Öchsner vermelden, dass der Süddeutschen bereits der Entwurf für den 4. Armuts- und Reichtumsbericht vorliegt, und die Kernbotschaft verkünden: „Reiche trotz Finanzkrise immer reicher“.

Alle Achtung! Unverblümt zeichnet der Bericht die Einkommens- und Vermögensschere in Deutschland nach, macht die öffentlichen Kosten der Bankenrettungen deutlich und vergisst auch nicht, darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich vermögensbasierter Steuern Deutschland im internationalen Vergleich alles andere als ein Hochsteuerland ist.

Alle Achtung gebührt auch dem Timing! Nur 10 Tage vor dem ersten bundesweiten Aktionstag des neu gegründeten und medial stark beachteten Bündnisses umFAIRteilen, in dem sich Gewerkschaften, attac und Sozialverbände für eine stärkere Besteuerung sehr reicher Haushalte einsetzen, platziert Ministerin von der Leyen ihre Botschaft, verpasst der UmFAIRteilungsdiskussion quasi den amtlichen Siegel und gießt zugleich Öl ins Feuer der Koalition: „Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.“

Dieser vierte Armutsbericht ist damit in seiner Inszenierung und der Deutlichkeit, in der er die Verteilungsprobleme in Deutschland benennt, klar der politischste aller bisher vorgelegten Berichte. Auch ohne dass irgendjemand die 500 Seiten tatsächlich gelesen hätte oder gelesen haben müsste, war der Finger in die Wunde gelegt und der Streit entbrannt.

Man erinnere sich dagegen nur an die traurige Aufführung von Arbeitsminister Olaf Scholz vier Jahre zuvor. Auch er ging damals mit seinem Berichtsentwurf ohne Vorwarnung an die Öffentlichkeit; allerdings mit dem ausgesprochenen Ziel der Entpolitisierung und des „Herunterkochens“. Seine Botschaft damals, exklusiv verkündet in der Bild am Sonntag: „Der Sozialstaat wirkt!“ – Konsequenzen: Keine.

Wie immer die Bundesregierung nun mit dem Berichtsentwurf umgehen wird: Er ist in der Welt und wird seine Wirkung entfalten. Bei aller fachlichen Diskussion um viele Details, bei aller politisch kontroversen Diskussion um Bewertungen und Schlussfolgerungen zu der Vielzahl angesprochener wichtiger fachpolitischer Aspekte der komplexen Thematik Armut, die Headline wird nicht mehr von der Tagesordnung des  aufziehenden Wahlkampfes wegzubekommen sein: umFAIRteilen tut Not!

Wirtschaft und Gesellschaft hat jetzt auch eine und freut sich über jedes “Gefällt mir”.

Wenn nur 100 Wirtschaft und Gesellschaft abonnieren…

 


Dieser Text ist mir etwas wert


Verwandte Artikel: