Im Frühling, Sommer, Herbst 2010 bin ich mit meinem Hund durch elf unserer sechzehn Bundesländer gewandert. Die folgende Geschichte gibt eines meiner Erlebnisse auf dieser Wanderung durch Deutschland wieder. Weil sie mir gut zum heutigen Tag, dem Tag der Deutschen Einheit, zu passen scheint, veröffentliche ich sie nun an dieser Stelle.
Buchstäblich auf Schritt und Tritt holt mich die Geschichte der DDR ein: Ich bin zu Fuß unterwegs in Mecklenburg-Vorpommern.
Wie eine Perlenkette legen sich die Hansestädte um das Dekolleté der Ostseeküste aus Greifswalder Bodden und Mecklenburger Bucht: Greifswald, Stralsund, Rostock und Wismar. Und sie sind ja auch Perlen, die unter der Hanse zu Reichtum gelangten Metropolen, Menschenoasen im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern. Wie aus Trotz scheinen sie aufzubegehren gegen den Stempel, den die gleichgültige Statistik ihrem Zuhause aufgedrückt hat: das Bundesland mit der geringsten Bevölkerungsdichte. Fehlt nur noch, dass sie es Hamburg und Bremen gleichtun und ihre Unabhängigkeit als Stadtstaaten und Bundesländer einfordern – dann hätten wir endlich wieder „neue Bundesländer“ im Osten. Denn die jetzt immer noch fälschlicherweise so bezeichneten – und damit häufig absichtsvoll Gezeichneten –, sind mit über zwanzig Jahren ja längst volljährig.
August. Kein Zimmer ist in Rostock zu bekommen. Dabei liegt das Ende der Hansesail bereits zwei Tage zurück. Besonders gut Bescheid weiß die Dame hinter dem Tresen der Touristeninformation: „Mit Hund? Unmöglich!“ „Sie haben ja noch nicht einmal geschaut“, erwidere ich und merke, wie in mir eine schlechte Stimmung empor kriecht und mir wie eine Gräte im Halse stecken bleibt. Was ich denke, aber nicht sage: „Was sind SIE denn für eine dämliche Meck-Vorpomeranze?“ Ich bin den ganzen Tag gewandert, und dann so ein Empfang. Aber wenn der Zimmermarkt gesättigt ist, scheidet Freundlichkeit als Angebot wohl gleich mit aus. So also funktioniert Marktwirtschaft. Und wie diese Frau funktioniert; bedient fühle ich mich jedenfalls nicht – und bin dennoch bedient. Ich wünsche ihr noch eine schnelle Automatisierung – natürlich nur in Gedanken – und verabschiede mich. Ganz hilflos bin ich nämlich nicht. Das Haus der St. Jakobi-Gemeinde bietet Pilgern auf dem Jakobsweg Herberge an für eine Nacht. Und ich befinde mich auf dem Jakobsweg, dem Via Baltica. Ich habe Glück und darf einziehen.
Rostock ist vollgestopft mit Menschen. Besonders überlaufen sind die Terrassen der Fast-Food-Ketten in der Fußgängerzone. Bis hierher bin ich bei meinem letzten Besuch in der Hansestadt gar nicht vorgedrungen. Der liegt drei Jahre zurück. Da wurde hier noch große Politik gemacht, jetzt wird offensichtlich nur noch groß eingekauft. Von G 8 zu geh einkaufen.
Wie dem auch sei, das alte Rostock, das zu DDR-Zeiten, lerne ich in Wismar kennen. Vor Jahren habe ich mir einmal einen kleinen Reiseführer gekauft, er heißt „Kleine Fluchten“. Mit „Keine Fluchten“ könnte die folgende Geschichte überschrieben sein.
Wie schon so oft auf meiner Wanderung durch Deutschland, bemühe ich mich um eine private Unterkunft. Ich möchte die Menschen vor Ort kennenlernen. Bei meiner Suche im Internet stoße ich auf das Geburtsdatum 1939. Meine Neugierde ist geweckt, ist dieser Jahrgang online doch so selten, wie ein rarer Wein im Keller – oder für diejenigen, die sich trotz oder wegen der Finanzkrise einen Keller voll mit raren Weinen leisten können: so selten wie ein Fischadler über der Wüste.
Ich schreibe eine E-Mail. Um auf Nummer sicher zu gehen, rufe ich auch an. „Da bin ich noch drin?“, fragt Frau Beneicke überrascht durchs Telefon. Sie meint ihren Eintrag im Gastfreundschaftsnetz. „Ich habe Ihnen gerade eine E-Mail geschrieben“, sage ich und erzähle ihr mein Anliegen. Sie erklärt mir, dass ihre Kinder ihr irgendwann einmal geraten haben: „Mönsch, Muddi, mach das doch moal.“ Und so hat sie sich registriert.
Trotz meines Überfalls, bietet sie mir an, meine E-Mail zu lesen und Bescheid zu geben. Ich bedanke mich artig. Und tatsächlich erhalte ich wenig später auf elektronischem Weg Post von ihr: Ich bin herzlich willkommen, genauer: „Hallo Herr Hild, ich will Ihnen schnell antworten, denn bis eben habe ich mir Ihre Pilgerreise mit Hund im Internet angeschaut, die von 2007, bin erst auf Seite 77, mache später weiter. Tolle Eindrücke und Fotos, man bekommt ja richtig Lust, das nachzumachen! Sie können dann bei uns ´einkehren´, weil ich ganz sicher ein Schlafplätzchen bei uns habe, auch wenn Besuch da ist. Wie es beschaffen sein wird, ist ja dann zweitrangig. Auf Grund unseres Alters, unseres älteren Hauses und unserer zwei Hunde ist es bei uns einfach, manchmal auch etwas chaotisch. Aber ein Naturbursche wie Sie wird das bestimmt ertragen können. Also rufen Sie uns an, wann Sie ungefähr da sind, und von unseren eventuellen Gästen am Wochenende dürfen Sie sich auch nicht stören lassen! Mein Mann erzählt Ihnen sicher viel über die Hansestadt Wismar und ihre Geschichte – und Kirchen haben wir ganz tolle anzuschauen! Backsteinkirchen, denn Wismar liegt ja an der Straße der Backsteingotik, also bis dann, Helga Beneicke.“
Zwei Pfundskerle von Hunden empfangen mich mit lautem Gebell am Gartenzaun, ein Irish-Setter-farbener Golden Retriever-Rüde und eine blonde, in meinen Augen etwas zu gut genährte Golden Retriever-Dame. Durch sie hindurch tritt meine Gastgeberin. Sie empfängt mich mit einem warmen Händeschütteln, und ihre ungezwungene, vertraute Art, mich herein zu bitten, lässt mich sogleich wie zu Hause fühlen.
Als erstes unternehmen wir einen Gang durch den Garten, um den Vierbeinern ein Kennenlernen im Freien zu ermöglichen. Nur ein kurzer Gang, denn Queeny, meine Labrador-Hündin und ständige Reisebegleiterin, ist erschöpft vom Laufen; noch dazu hat ihr Fell das Regenwasser, das unterwegs über Stunden auf uns herab gerieselt ist, aufgesogen wie ein Schwamm; diese literschwere Last hat sie sichtbar ermüdet.
Frau Beneicke entschuldigt sich für die „Unordnung“ im Garten, den sich ein kleiner Teich, ein alter Pflaumenbaum, Stockrosen und Ringelblumen, Gemüse- und Kräuterbeete, eine Rasenfläche und ein schon in die Jahre gekommenes Gewächshaus teilen. Ich aber finde ihn wunderschön, der Rasen gepflegt, aber nicht penibel getrimmt, die Pflanzen ins Beet gesetzt, aber nicht eingepfercht; die Blumen genießen es sichtlich, sich frei entfalten zu dürfen. Ein Garten verrät doch eine ganze Menge über seine Besitzer – wie man es auch den Hunden nachsagt: Die, beide verschmust und lebensfroh um uns herum scharwenzelnd, hat Frau Beneicke von Ihrer Tochter übernommen, die in die USA übergesiedelt ist.
Wieder am Haus angekommen, begrüßt mich auch Herr Beneicke, und wenig später sitzen wir bei Kaffee und selbst gebackenen Pflaumenkuchen am Wohnzimmertisch. Von hier aus breitet sich vor mir, langsam und in Häppchen auf zwei Tage verteilt, ein persönlich bewegendes Stück DDR-Geschichte aus, das, ganz nebenbei, die immer noch andauernde Diskussion darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist oder nicht, besonders absurd erscheinen lässt; absurd in meinen Augen auch die Vorstellung, sich bei dieser politischen und humanen Frage auf eine juristische Nachbetrachtung zurückziehen zu können, wie es erst jüngst der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, wieder unternommen hat: Der Ministerpräsident halte die Vokabel Unrechtsstaat für „unglücklich“, meldet der Deutschlandfunk am 23. August in seinen Nachrichten, und weiter: „Die DDR sei zwar kein vollkommener Rechtsstaat gewesen, aber eben auch kein Unrechtsstaat. Der Begriff unterstelle, dass alles, was dort im Namen des Rechts geschehen sei, Unrecht gewesen sei, meinte de Maiziere. Das eigentliche Problem seien das politische Strafrecht und die fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit gewesen.“
Gerade mit dieser sprichwörtlichen Rechthaberei wird ja aber immer wieder Unrecht relativiert und verharmlost – nicht nur was die DDR-Geschichte anbelangt, auch in der Gegenwart, ja, auch vor der eigenen Haustür.
Unrecht lässt sich am Leid, das der Einzelne erfährt, ermessen, empfinden, bloß stellen, verurteilen. Nur wer das Leid, das dem Einzelnen widerfahren ist, in den Mittelpunkt stellt, kann auch das Unrecht, das Einzelnen aktuell widerfährt, glaubwürdig verurteilen und für mehr Gerechtigkeit streiten. Die Arroganz, mit der „der Westen“ über vieles in der DDR einfach hinweggegangen ist, anstatt zu vergleichen und das Bessere zum Zuge kommen zu lassen, kann davon völlig unberührt kritisiert werden. Dass dies in der Vergangenheit wiederum vielfach zu reflexartiger Empörung geführt hat, ja bis heute führt, erklärt vielleicht die Abwehrhaltung, wie sie Lothar de Maizière, vor allem aber Politiker der Linken, gegenüber dem Wort Unrechtsstaat hervorbringen; von einem souveränen Umgang mit dem Thema zeugt sie indes nicht.
Frau Beneicke ist die Mutter von Ute Christopher. Ute Christopher hat, gemeinsam mit zwei anderen Jugendlichen, 1985 (!) in der Rostocker Innenstadt Losungen wie „Frieden schaffen ohne Waffen“, „DDR – eingesperrt“, „Wir sind mündig, doch wir haben nichts zu sagen“, ja auch: „DDR – KZ“ in großen Lettern an die Wände geschmiert. Sie war damals 18 Jahre jung. Der Vorgang ist als „OV Signal“ in die DDR-Geschichte eingegangen und gut dokumentiert: „DDR – eingesperrt”, Jugendliche im Stasi-Visier, am Beispiel des Operativen Vorgangs (OV) „Signal“, Auszug aus einer Akte des MfS, BStU, 2., korrigierte Auflage, Berlin 2008.
Ute Christopher hat für ihre Tat eineinhalb Jahre bekommen – Schwerstvollzug in der Frauenhaftanstalt Hoheneck, einem Gefängnis für Schwerstverbrecher! Wer dieses Dokument liest – jedermann kann es im Internet einsehen – und immer noch Zweifel hegt, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist, ist gut beraten, zunächst sein eigenes Unrechtsbewusstsein zu prüfen.
Umso mehr versetzt mich die Erzählweise der Mutter von Ute Christopher in Erstaunen – und in Bewunderung: Ihre lebhaften Worte entbehren jedwede Verbitterung; kein leidvoller Unterton schwingt in ihren Sätzen mit. Im Gegenteil, sie ist ein durch und durch positiv gestimmter Mensch geblieben. Und doch denke ich, während ich ihr zuhöre, unentwegt: Was hat diese Frau durchgemacht, was für Ängste um ihre verfolgte Tochter ausgestanden? Und: Ist die Geschichte dieser Eltern eigentlich irgendwo schon einmal niedergeschrieben worden?
„Ich habe noch die Farbe aus ihrer Wäsche gewaschen“, erzählt sie, lächelnd, mir Kaffee nachschenkend und fragt mich, ob ich noch ein Stück Pflaumenkuchen möchte. Erwischt worden sind sie dennoch: durch Schriftproben und Spitzeldienste. „Sie hat das bis heute nicht verarbeitet“, ist ein weiterer Satz der Mutter, der so viel unausgesprochenes Leid ausdrückt. Alles würde Ute wieder in Erinnerung gerufen, wenn sie zurückkehrte nach Deutschland, hierher, nach Wismar, in die Nähe Rostocks.
Es gibt eine weitere Dokumentation von Katrin Meyerfeldt, Astrid Freese und Julia Schneider: „Filmprojekt der Kino-AG ´li.wu Juniors´ zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution.“ In der wird Ute Christopher, heute Bonstedt, von Schülern interviewt. Sie antwortet und erzählt darin. Meistens lächelt sie dabei. Ich denke, während ich mit Frau Beneicke abends gemeinsam den Film auf DVD anschaue: So lächelt ein Mensch, wenn er ein durch Schmerz und Verzweiflung aufkeimendes Weinen unterdrückt. Darauf angesprochen, erwidert Frau Beneicke mit warmer Stimme und wie aus weiter Ferne: „Ja, nach diesem Projekt zu Hause angekommen, hat sie gar nicht mehr aufgehört zu weinen; alles ist wieder hochgekommen.“
Wie anders, wie authentisch, aufklärerisch und glaubwürdig, die Erfahrung, dieser Mutter zuzuhören, im Vergleich zu den so häufig ideologisch, mal rot, mal schwarz eingefärbten Floskeln von Parteipolitikern, Historikern und Medien jedweder Couleur. Ich muss daran denken, wie mich schon in Behördendeutsch verfasste Schreiben aus der Fassung bringen, meine Stimmung drücken, und komme mir lächerlich vor – was nichts daran ändert, dass der darin angeschlagene Ton mir darauf ausgelegt zu sein scheint, zu zeigen, wer der Herr im Hause ist – fordernd, einschüchternd, Angst einflößend, anmaßend, menschenfeindlich! Das aber ist eine eigene Geschichte wert.
Und ich muss daran denken, was ich, gleichaltrig mit Ute, zum Zeitpunkt des Geschehens wohl gemacht habe: Wahrscheinlich habe ich in Lüneburg, zweieinhalb Autostunden von Rostock entfernt, im Übungskeller gesessen und mit der Band musiziert. Danach werden wir in eine Kneipe gezogen sein, auf ein, zwei oder mehr Bierchen, je nachdem, wie sich die Unterhaltung zwischen uns entwickelte; und die konnte sich immerhin frei entwickeln, ohne dass wir Angst haben mussten, bei unseren teils sicherlich abstrusen und provokanten Gedanken vom Nachbartisch oder sogar am eigenen Tisch belauscht und dann verraten zu werden.
Ute, ein Einzelfall? Ich begegne noch weiteren Menschen in den östlichen Hansestädten und drum herum: Einer erzählt mir von seiner Flucht aus Berlin – nicht in den Westen, dafür aber aufs Land, nach Mecklenburg-Vorpommern, für ihn damals ebenso fremd wie „der Westen“. Dass er nicht in die FDJ gegangen sei, wäre noch toleriert worden, auch die fehlende Parteizugehörigkeit; als er aber den Dienst an der Waffe verweigert habe und „Bausoldat“ geworden sei, wäre der Ofen aus gewesen: kein Studium. „Dafür brauchen wir verlässliche Kader“, sei ihm in einem Gespräch unmissverständlich übermittelt worden. Dass er später, nach einer Ausbildung, doch noch studieren durfte, sei dem „Kniff“ einer Kollegin zu verdanken, über den er bis heute noch nicht wisse, wie er funktioniert habe.
Ein anderer erzählt mir, dass ihm wegen seiner „klassisch evangelisch-lutherischen Erziehung“ das Studium verwehrt worden sei; auch er war nicht der FDJ und der Partei beigetreten. Nach der „Wende“ habe er aber noch studieren können.
Auch Ute gelingt es noch, ein Studium abzuschließen, nachdem sie 1987 aus der Haft in die Bundesrepublik entlassen worden ist.
All diese Menschen, die mir unterwegs zu Fuß innerhalb nur weniger Tage begegnen, sind offen und „geradeaus“. Nur beiläufig, buchstäblich im Vorbeigehen, erzählen sie mir von ihrem Schicksal, nachdem wir uns jedes Mal in eine längere Unterhaltung hineingeredet haben. Wie viel weiter, versöhnlicher und zurückgelehnter, diese Menschen sind, die selbst Unrecht erlitten haben, im Vergleich zu denen, die über dieses Unrecht nur selbstgerecht und belehrend schwadronieren – und dabei häufig selbst, im Politikbetrieb zum Beispiel, mit der Verabschiedung von Gesetzen der Not und Ausgrenzung von bedürftigen Menschen nicht nur nicht gerecht werden, sondern sie noch weiter vergrößern. Diese Gattung – das habe ich unterwegs schon oft gedacht – sollte einmal auf „die Walz“ gehen, zu Fuß durch Deutschland; so, wie es viele Handwerker unternehmen, bevor sie den Meister in ihrem Beruf erwerben.
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