“Genossen, lasst die Tassen im Schrank”, beschwor der damalige SPD-Wirtschafts- und Finanzminister, Karl Schiller, die Delegierten auf einem Sonderparteitag in Bonn 1971. Schiller wehrte sich mit diesem Ausspruch gegen die Forderung, die Körperschaftssteuer von 51 auf 58 Prozent zu erhöhen. Er hielt 56 Prozent (!) für das höchste der Gefühle.
Heute geht es in der SPD um nichts Geringeres, als die Tassen zurück in den Schrank zu stellen. Schwarz-rot hat die Körperschaftssteuer 2008 von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Das Körperschaftssteueraufkommen sank daraufhin von 23 Mrd. Euro auf 7,2 Mrd. Euro (2009), ihr Anteil am gesamten Steueraufkommen ging von 4 bis 5 Prozent auf 1,5 Prozent zurück. 2001 hatte bereits die rot-grüne Bundesregierung das Halbeinkünfteverfahren eingeführt und den Steuersatz von 40 Prozent (30 Prozent für Ausschüttungen) auf einheitlich 25 Prozent gesenkt.
Der im nordkoreanischen Regierungsstil ernannte Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, ist nun bei einem weiteren Thema, das seit Wochen völlig zu Recht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung steht, aus der Deckung gekommen – und zeigt erneut, dass er völlig ungeeignet ist, die vielen aus dem sozialdemokratischen Schrank gefallenen Tassen in denselben zurückzustellen. 2001/2002 ist die große Rententasse aus dem Schrank gefallen bzw. trifft es wohl besser das Bild, dass die SPD sie zu einem Polterabend mitgenommen hat. Der Anlass: Die große Vermählung mit dem Neoliberalismus. Dabei durften ordentliche Rentenkürzungen und die Teilprivatisierung des Rentensystems natürlich nicht fehlen. Die SPD hat den Scherbenhaufen bis heute nicht aufgekehrt. Selbst an Demenz leidend, hat sie auch immer noch nicht die Scheidung eingereicht und ihre Ehe mit dem in die Jahre gekommenen Gatten beendet. Im Gegenteil, die Liebe scheint gerade erst wieder frisch aufgeflammt, nimmt man den SPD-Kanzlerkandidaten beim Wort. Über ihn berichtet der Deutschlandfunk heute früh in seinen Nachrichten:
“Freitag, 05. Oktober 2012 09:00 Uhr
Steinbrück warnt SPD: Bei der Rente nicht zu viel versprechen
Der designierte SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück hat seine Partei in der Rentendebatte vor unhaltbaren Wahlkampfversprechen gewarnt. Die Sozialdemokraten dürften in ihrem Programm nichts in Aussicht stellen, was sie in Regierungsverantwortung unter dem Druck der Realitäten nicht umsetzen könnten, sagte Steinbrück der Zeitung “Die Welt”. Die Politik sei aufgefordert, eine verlässliche Ansage im Wahlkampf zumachen. Kritik übte Steinbrück an den Jusos, die für eine Erhöhung der Rentenbeiträge eintreten. Die Jusos sollten sich in erster Linie für die Interessen ihrer Generation im demografischen Wandel einsetzen, meinte Steinbrück. Die SPD-Linke fordert wie auch die Gewerkschaften, die beschlossene Senkung des Rentenniveaus von derzeit gut 50 auf 43 Prozent bis 2030 rückgängig zu machen. Steinbrück und auch Parteichef Sigmar Gabriel lehnen eine solche Änderung der Rentenformel bislang ab.”
Da ist er wieder, der Agenda 2010-Politiker in Reinform, hier und nur hier ist Steinbrück wirklich glaubwürdig, hier zeigt er sich unverfälscht, authentisch – als Anti-Sozialdemokrat. Das markanteste und zugleich bedrohlichste Kennzeichen dieser Politiker-Gattung: Sie suggeriert Sachzwänge – “Druck der Realitäten” (Steinbrück) -, wo es keine gibt – und schafft damit erst welche.
Auch die Linken in der SPD-Spitze, die im Vorstand stimmberechtigt sind (der Juso-Vorsitzende ist nicht stimmberechtigt), haben diesen Kandidaten einstimmig mit nominiert, ihn aufs Schild des Kanzlerkandidaten gehoben. Wir haben dieses Abstimmungsverhalten als opportunistisch bewertet. Es hat darüber hinaus überaus deutlich gemacht, dass die Agenda Politik nicht trotz, sondern wegen dieser hasenfüßigen Linken möglich war. So betrachtet sollte man das geläufige Wort von der “Gerechtigkeitslücke” auch getrost durch “Gedächtnislücke” ersetzen.
Die Chance: Noch ist Steinbrück ja gar nicht gewählt! Die Delegierten müssen ja noch zustimmen. Diese sind jedoch selbst allzu häufig und allzu deutlich von Karrierezielen getrieben und deswegen kein zuverlässiges Stimmungsbarometer für die Parteibasis. Deswegen kann nur eines zuverlässig diesen Kanzlerkandidaten noch verhindern: Die SPD-Basis muss selbst aktiv werden und eine Urwahl nach dem Muster der Grünen fordern. Zeit genug ist dafür noch. Sie darf sich dabei nicht auf die Bundestagsabgeordneten der SPD-Linken verlassen und auch nicht auf die Delegierten. Die einen haben sich bei er Abstimmung im Parteivorstand eindeutig disqualifiziert, die anderen hängen – wie das Beispiel des neuen, vermeintlich linken Berliner Landesvorsitzenden Jan Stöß zeigt – ihr Fähnchen ebenfalls allzu leicht in den Wind eigener Karriereabsichten (siehe dazu zum Beispiel hier und hier).
Die Basis kann sie jedoch in die Pflicht nehmen. Positiv gewendet: Mit kritischer aber breiter Unterstützung der Basis würden Politiker wie Hilde Mattheis und Klaus Barthel evtl. auch endlich in die Offensive gehen; spätestens die Vorstandsentscheidung aber hat deutlich gemacht: sie müssen zum Jagen getragen werden. Vorwärts Genossen! Ich biete hiermit an – auch ohne jedwedes Parteibuch und honorarlos (lediglich Fahrtkosten und Übernachtung wären aufzuwenden) – für Gespräche und inhaltliche Diskussionen zu Euch/Ihnen zu reisen, um eine Urwahl des SPD-Kanzlerkandidaten zu unterstützen und inhaltlich zu unterfüttern: Es geht nicht allein um die Sozialdemokratie, es geht um die Demokratie in unserem Land und in Europa.
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