“Die deutsche Lohnzurückhaltung seit der Jahrtausendwende war nicht Ergebnis staatlicher Vorgaben, sondern freier Tarifverhandlungen unter dem Eindruck der Massenarbeitslosigkeit. Sie ist vor dem Hintergrund der überhöhten Lohnsteigerungen in den neunziger Jahren nach der Wiedervereinigung zu sehen, die korrigiert werden mussten.”
Das schreibt Philip Plickert – bei dem es ganz offensichtlich nicht ganz richtig tickert – in der FAZ.
Nicht nur, dass ein kurzer Blick in die , kurz Eurostat, ihn hätte eines besseren belehren können. Um zu sehen, ob es in Deutschland in den 1990er Jahren “überhöhte Lohnsteigerungen” gab, wie Plickert behauptet, ist es ratsam, die Lohnstückkostenentwicklung – die die nominale Lohnentwicklung ins Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung setzt – Deutschlands mit der des größten Handelspartners, Frankreich, und der der Eurozone insgesamt zu vergleichen.
Der Vergleich zeigt, dass die deutsche Lohnentwicklung sich seit 1989 zunächst derjenigen in Frankreich annähert – von unten. Dann liegen beide Länder bis zur Jahrtausendwende und bis zum Beginn der Europäischen Währungsunion ungefähr gleich auf. Seitdem ist die deutsche Lohnentwicklung deutlich hinter die Frankreichs und der Eurozone insgesamt zurückgefallen. Frankreich ist dabei noch aus einem anderen Grund das richtige Land für einen Vergleich: Es hat sich, anders als Deutschland, seit Beginn der Währungsunion an das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank gehalten. Das war wiederum nur möglich, weil sich in Frankreich die Löhne entsprechend der Produktivität plus des vertraglich vereinbarten Inflationsziels von zwei Prozent entwickelt haben – die Löhne in Deutschland aber nicht.
Weil das so ist, die Lohnstückkostenentwicklung die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer untereinander bestimmt und entsprechende Handels- und Leistungsbilanzungleichgewichte hervorgerufen hat, ist auch Plickerts Schlussfolgerung, dass es “Unsinn” sei, eben diese Ungleichgewichte für die Eurokrise verantwortlich zu machen, falsch. Unsinnig sind allein Plickerts Ausführungen, die den Namen “Analyse”, den er ihnen einleitend beimisst, in keinem Fall verdienen. Indem er die Handelsbilanzungleichgewichte und die sie bestimmenden Lohnstückkosten für “Unsinn” erklärt, zeigt er lediglich, dass er die zentrale Bedingung für eine funktionierende Währungsunion überhaupt nicht verstanden hat: die Einhaltung des vertraglich vereinbarten Inflationsziels von zwei Prozent.
Natürlich ist es auch ein schlechter Witz, von “freien Tarifverhandlungen” zu schreiben und Auswirkungen “staatlicher Vorgaben” auf die Lohnentwicklung bzw. auf die Tarifverhandlungen auszublenden. Nicht einmal ernst zu nehmende konservative Ökonomen würden verneinen, dass die Hartz-Gesetzgebung – staatliche Vorgaben also – die Lohnentwicklung in Deutschland beeinflusst hat. Im Gegenteil: Es war das ausdrückliche Ziel der Agenda 2010, die deutschen Löhne zu drücken, weil man dummerweise meinte, Deutschland sei “der kranke Mann Europas”. Wiederum zeigt der Vergleich der Lohnstückkosten mit Frankreich, dass Deutschland nie der “kranke Mann Europas war”. Richtig ist vielmehr, dass Deutschland mit seinem Lohndumping Europa krank gemacht hat.
Wie kann allein schon vor diesem Hintergrund ein Heini wie Plickert Redakteur für Wirtschaft bei der FAZ werden? Wohl nur, weil von den Verantwortlichen dort Ideologie höher bewertet wird als Sachkenntnis. Ein Armutszeugnis für die Redaktion und für die Herausgeber der FAZ.
Doch damit ist der Unfug, den Plickert in seinem Beitrag verzapft, noch längst nicht vollständig korrigiert. Plickert schreibt weiter:
“Peking operiert vor allem mit der staatlichen Kontrolle des Wechselkurses, dessen Unterbewertung nur sehr langsam korrigiert wird und einen aufgeblähten Exportsektor bewirkt.”
Der Mann hat wirklich keine Ahnung und anscheinend überhaupt nicht hingeschaut. Wir haben auf Basis internationaler Analysen in einem eigenen Beitrag gezeigt, dass der Wechselkurs Chinas seit langem real kräftig gegenüber seinen Handelspartnern aufwertet, während Deutschland abwertet: Wären China und Deutschland in einer Währungsunion – wäre Deutschland auch der Buhmann.
Plickert weiter:
“Die hohen Zuwachsraten im Export mit China, Indien, Brasilien, Russland und den ölreichen arabischen Staaten sind der Hauptgrund für die großen Außenhandelsüberschüsse.”
Der Handelsanteil Deutschlands mit diesen Ländern ist immer noch vergleichsweise gering; immer noch wickelt Deutschland rund 60 Prozent seines Außenhandels innerhalb der Europäischen Union ab (vgl. hierzu zuletzt hier und hier; ausführlich: Zur Bedeutung der Eurozone für die Weltwirtschaft).
Als ob Plickerts Ausführungen bis hierhin nicht schon irre genug wären, verliert er im letzten Absatz offensichtlich völlig seinen ökonomischen Verstand – sollte er ihn denn jemals besessen haben:
“Export ist kein Selbstzweck und ein Handelsüberschuss nicht per se erstrebenswert, das glauben nur Merkantilisten. Letztlich ist der Endzweck allen Wirtschaftens immer die Befriedigung von Konsumbedürfnissen. Deutschland als alternde Gesellschaft kann sich über seine hohen Leistungsbilanzüberschüsse freuen. Noch arbeitet die Generation der Babyboomer, sie spart und legt einen Teil davon in der ganzen Welt an. Die deutschen Nettovermögen im Ausland haben sich – trotz Verlusten in der Krise – seit 2005 auf fast eine Billion Euro verdoppelt. Wenn die aktive Arbeitsbevölkerung schrumpft, wird der Exportüberschuss zwangsläufig sinken, der Konsum steigt relativ zur Produktivkraft. In zwei Jahrzehnten dürfte der Leistungsbilanzüberschuss völlig weggeschmolzen sein. Dann wird das wachsende Rentnerheer das angesparte (Auslands-)Vermögen aufzehren.”
Der erste Teil des Satzes ist ein Allgemeinplatz und soweit auch richtig – er passt bloß nicht so recht zu den vorherigen Ausführungen Plickerts. Jedoch: Auch die Merkantilisten behandelten Handelsüberschüsse nicht als Selbstzweck: Sie thematisierten und nutzten sie durchaus gezielt als Mittel für die Industrialisierung ihrer Länder.
Der zweite Satz von Plickert ist zwar auch nicht falsch, angesichts des ganzen Ansatzes von ihm jedoch der blanke Hohn – sonst hätte Plickert die schlechte Lohnentwicklung in Deutschland erst recht anders beurteilen müssen. Aber wer sich nicht einmal die Mühe macht, sich der Zahlen zu versichern und “staatliche Vorgaben” und ihre Auswirkungen auf die Tarifpolitik nicht versteht, der kann auch nicht auf den Zusammenhang von produktivitätsorientierter Lohnpolitik und Konsumentwicklung stoßen.
Bei diesem unterirdischen Niveau passt es schließlich gut ins Bild, auch noch das demographische Fass aufzumachen. Auch hier hat Plickert aber überhaupt nichts verstanden. Weder muss der Exportüberschuss “wenn die aktive Arbeitsbevölkerung schrumpft, zwangsläufig sinken”, das Gegenteil ist möglich, was unter anderem daran liegen kann, dass “der Konsum” keineswegs zwingend “relativ zur Produktivkraft steigt”; denn das setzt generell eine entsprechende Entwicklung der Einkommen voraus. Und dann die Phobie vor einem “wachsenden Rentnerheer” und die Mär vom “angesparten Vermögen”. Dieses “angesparte Vermögen”, die private Altersvorsorge, verhindert gerade Investitionen und damit die einzige Gewähr für ein “kapitalgedecktes” Vermögen: Rente: Privates Sparen für Altersvorsorge geht zu Lasten zukünftiger Generationen und zu Lasten einer sicheren Rente
Nur eine Frage können wir abschließend nicht klären: Wie kann solch ein Beitrag die Wirtschaftsredaktion einer der angesehensten Tageszeitungen verlassen?
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