Auf der Suche nach weiteren Aussagen Wolfgang Schäubles anlässlich der Jahrestagung von IWF und Weltbank stieß ich zwar nicht auf die gesuchten; allerdings wurde ich auf der Seite des Bundesfinanzministeriums mit viel weiter reichenden Äußerungen Schäubles konfrontiert, die er bereits am 21. September in einem Interview mit Phoenix vornahm, und die doch sehr grundsätzlich über das Staatsverständnis und das allgemeine Politikverständnis Schäubles Auskunft geben. Zu befürchten ist, dass er mit seiner Geisteshaltung keineswegs allein dasteht.
“Eigentlich werden die materiellen Lebensumstande für alle besser…”
Die Überschrift des Interviews – “Wir haben doch gute Leute in den Ländern” – lässt darauf schließen, dass sich das Interview lediglich um Parteinachwuchs dreht, die CDU selbst im Zentrum des Gesprächs steht. Das aber bestimmt nur die einleitenden Fragen. Das Interview ist aufgrund ganz anderer Themen bedeutsam.
Schäuble wird auf den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung angesprochen:
“Frage: Wir hören jetzt gerade vom Armutsbericht, dass die Schere Arme und Reiche doch stärker auseinandergeht. Für wie schwierig halten Sie das, das Stichwort Gerechtigkeit noch zu vermitteln? Und solche Vorschläge wie von Frau Kramp-Karrenbauer, den Spitzensteuersatz zu erhöhen, ist das eine logische Konsequenz?
Frage: … Auf der einen Seite wird die Schere zwischen Wohlhabenden und nicht Wohlhabenden größer…, wahrscheinlich auch eine Folge der Globalisierung…
Antwort: Eigentlich werden die materiellen Lebensumstande für alle besser… Aber die Unterschiede werden größer …, darauf haben wir keine richtigen Antworten, weil die Versuche im letzten Jahrhundert, das einzufangen durch irgendwelche Systeme, in denen der Staat das reguliert, sind immer in der Unfreiheit … erstickt… Immer wieder ein Stück weit Korrekturmechanismen einzuführen, ist wichtig… Unser Modell, Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich, Begrenzung zu kombinieren, das muss man immer neu balancieren, ist das intelligentere, das nachhaltigere Modell…”
Wie aber können die materiellen Lebensumstände für alle besser werden, wenn nur die oberen und insbesondere die sehr hohen Einkommen zulegen, die anderen aber Einkommensverluste hinnehmen müssen, wie es auch der Entwurf des Armutsberichtes der Bundesregierung nachweist?
Zuerst also weigert sich der Finanzminister, die Wirklichkeit anzuerkennen. Er sagt schlichtweg die Unwahrheit. Und es spricht nicht gerade für die Journalisten, dass sie den Finanzminister in dieser Frage nicht stellen. Aber wer schon statt von Reichen und Armen zu sprechen, beschönigend von “Wohlhabenden und nicht Wohlhabenden” spricht, ist in dieser Hinsicht wohl auch nicht mehr zu retten.
Schäuble geht aber noch weiter. Er benutzt seine unwahre Schilderung, um die Entwicklung des Sozialstaats ganz grundsätzlich zu diskreditieren, indem er ihn gegen das hohe Gut der “Freiheit” ausspielt. Die Politik habe keine richtigen Antworten auf das Problem wachsender Ungleichheit – das Problem wachsender Ungleichheit immerhin hat er erkannt – “weil die Versuche im letzten Jahrhundert, das einzufangen durch irgendwelche Systeme, in denen der Staat das reguliert, sind immer in der Unfreiheit … erstickt…”
Welche “Versuche im letzten Jahrhundert” Schäuble meint, lässt er offen. Wann aber war die Entwicklung der Sozialversicherungssysteme der Bundesrepublik – die zumindest sollte Schäuble geläufig sein – je verantwortlich für Unfreiheit, obwohl der Staat doch hier zweifellos immer “reguliert” hat? Der Ausbau der Sozialversicherungssysteme hat, anders als Schäuble behauptet, breiten Bevölkerungsschichten erst die Freiheit gebracht, die “soziale Durchlässigkeit” befördert und eine allgemeine Versorgung der Bevölkerung mit Bildung, Gesundheit, Rente und bei Arbeitslosigkeit sichergestellt. Erst die radikale Infragestellung der sozialen Sicherungssysteme – ihre Deregulierung – durch die Politik, die ihre konsequenteste Umsetzung in der Agenda 2010 fand, hat sehr viele Menschen wieder unfrei werden lassen, sie beispielsweise dazu gezwungen, jede Arbeit unabhängig von Qualifikation und Gehalt anzunehmen, viele Bildungsmöglichkeiten nicht mehr zu nutzen, weil sie für viele nicht mehr bezahlbar sind, aus dem gleichem Grund nicht mehr so häufig den Arzt aufzusuchen, in Altersarmut zu leben.
Schäuble soll den Staat vertreten, lehnt ihn aber hinsichtlich einer seiner wichtigsten Funktionen ganz offensichtlich ab. “Ein Stück weit Korrekturmechanismen”, ist stattdessen seine Umschreibung für “sozialen Ausgleich”.
“Wir haben in Deutschland nicht generell zu wenig Einnahmen für den Staat, wir geben zu viel aus…”
Da ist es nur konsequent, wenn er fortfährt:
“Ich habe kürzlich … darauf hingewiesen, wir haben in Deutschland nicht generell zu wenig Einnahmen für den Staat, wir geben zu viel aus, deswegen müssen wir … die Haushalte über die Ausgaben sanieren… Unsere Sozialabgaben sind hoch und werden auch hoch bleiben müssen angesichts der demografischen Entwicklung.”
Lediglich die demografische Entwicklung ist für Schäuble ein Grund für hohe Sozialausgaben. Was aber ist zum Beispiel mit den immer noch rund 60.000 Schülern, die Jahr für Jahr ohne Schulabschluss ins Leben entlassen werden; was ist mit der jetzt schon vorhandenen Altersarmut; was ist mit den Millionen Niedriglöhnern und Hartz IV Beziehenden usw.?
Und was ist die Definition für “unsere Sozialabgaben sind hoch”? Haben andere, vergleichbare Länder nicht deutlich höhere soziale Standards als Deutschland? Die Sozialleistungsquote – der Anteil der Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts – betrug im Jahr 2000 noch 30,1 Prozent; 2008 waren es nur noch 27,9 Prozent. Länder wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden haben höhere Sozialleistungsquoten. Man denke darüber hinaus an das aktuell diskutierte Rentenniveau; unsere Nachbarländer haben deutlich höhere Rentenniveaus.
Der Politikwissenschaftler Josef Schmid hält in seinem aktuellen Beitrag über “Struktur und Dynamik von Sozialausgaben” auch mit Verweis auf die ungleiche Verteilung von Sozialausgaben abschließend fest:
“Die über die vergangenen Jahrzehnte zu beobachtende Ausgabendynamik vermittelt somit fälschlich den Eindruck einer ´heilen Wohlfahrtswelt´, denn dazu sind die Herausforderungen und absehbaren Veränderungen zu groß.”
“Eigentlich ist es gut, dass der Gestaltungsspielraum kleiner geworden ist für Politik…”
Schäuble lehnt jedoch nicht allein ab, dass der Staat sozialpolitisch reguliert, weil dies in seinen Augen in Unfreiheit endet; er geht noch weit darüber hinaus, indem er es generell begrüßt, dass der Gestaltungsspielraum in der Politik kleiner geworden ist – und scheut dabei nicht einmal vor Anspielungen auf Hitler zurück. Politik ist für Schäuble “nur noch ein Netzwerk”!
“Frage: Ist der Gestaltungsspielraum in der Politik insgesamt über die Jahre geringer geworden?
Antwort: Eigentlich ist es gut, dass der Gestaltungsspielraum kleiner geworden ist für Politik. Einen Krieg kann keiner mehr so anfangen wie Hitler, jedenfalls nicht in Deutschland, nicht in Europa… Wir können vieles nicht mehr staatlich alleine regeln, das heißt Globalisierung, heißt mehr internationale Zusammenarbeit… Das Zweite ist: Vieles entzieht sich der Regelung durch die Politik. Das Internet…, die globalisierten Märkte, die Mobilität von Kapital, Finanzmärkte… Politik ist nur noch ein Netzwerk…”
Als ob es bei der Frage des politischen Gestaltungsspielraums um Vernichtungskriege und Völkermord ginge. Übersetzt hieße das doch: Besser nichts oder möglichst wenig politisch gestalten, sonst droht ein neuer Hitler. Ist es – auch in der historischen Betrachtung – aber nicht genau umgekehrt: Dass der mangelnde politische Gestaltungsspielraum und Gestaltungswillen, die politische Vernachlässigung des sozialen Zusammenhalts, das Potenzial für Unfrieden, politischen Extremismus und Tyrannen in sich tragen?
Schäuble meint weiter, dass sich “vieles der Regelung durch die Politik entzieht”. Auch das ist, zumindest auf die Bereiche bezogen, die Schäuble anspricht – “das Internet…, die globalisierten Märkte, die Mobilität von Kapital, Finanzmärkte…” -, nicht richtig. Die Politik hat sich aktiv ihrer Verantwortung entzogen und tut dies immer noch, indem sie eben ihren Gestaltungsspielraum aufgab und weiter aufgibt; vieles “entzieht” sich eben nicht “der Regelung durch die Politik”, das ist kein Automatismus, sondern die Politik hat sich selbst für unmündig erklärt. Und verhält es sich nicht auch hier gerade entgegen Schäubles Äußerungen: “Die globalisierten Märkte, die Mobilität von Kapital, Finanzmärkte” mit ihren verheerenden ökonomischen und sozialen Verwerfungen schreien geradezu nach Regeln, die nur die Politik, die Regierungen und die Parlamente, natürlich auch und gerade in einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit, entwickeln und umsetzen kann.
Es ist schon erschütternd, wie wirklichkeitsfern und ideologisch motiviert Schäubles Politikverständnis zu sein scheint. Er bekleidet immerhin eines der wichtigsten Ämter in unserem Staat.
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