Spiegel online ist mal wieder außer Rand und Band: “Duell der Super-Europäer” überschreibt Veit Medick überdreht sein Heldenepos über die heute von der Bundeskanzlerin und dem Kanzlerkandidaten der SPD gehaltenen bzw. abgelesenen Reden im Deutschen Bundestag. Das politische Pendant zur journalistischen Geistlosigkeit – zum Beispiel steht in diesem Fall Veit Medick von Spiegel online in nichts nach – findet sich in Reaktionen von SPD-Spitzenpolitikern auf die Rede Steinbrücks.
So ist auf Peer Steinbrücks Internetseite unter anderem SPD-Chef Gabriel mit den Worten zitiert: “Peer Steinbrück hat im Bundestag gerade eine glänzende Rede gehalten: Kein Technokratengerede wie Angela Merkel, sondern ein Aufbruch zu einem sozial gerechten Europa mit Chancen für alle!” Nicht alles, was glänzt, ist Gold”, möchte man ihm da direkt entgegen halten, nach der Lektüre von Steinbrücks Rede. Und: Was hat ein Agenda 2010-Politiker wie Gabriel wohl für eine Vorstellung von “einem sozial gerechten Europa mit Chancen für alle”? Einer wie er, der gerade jüngst in der Rentenpolitik wieder ein Konzept für weiter steigende Altersarmut vorgelegt hat und vor ebenfalls nicht langer Zeit im Vorwärts mit den Worten zitiert wurde: “Die SPD war nie die Partei der Arbeitslosen.” Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zitiert Gabriel im Mai dieses Jahres mit den Worten: “Natürlich müssen viele Länder in Europa ihre Arbeitsmärkte flexibilisieren, natürlich müssen wir in Europa Staatsbetriebe privatisieren.” Und noch im Juni dieses Jahres ist von Gabriel in den Nachrichten des Deutschlandfunks zu hören, dass er an den Höhen der Sparauflagen “nicht rütteln” wolle.
Hubertus Heil, ebenfalls ein überzeugter Agenda-Politiker, setzt bei der Bewertung von Steinbrücks heutiger Rede noch einen drauf: “Das war Kanzlerformat!” Lassen wir das einfach mal so stehen. Es gibt Aussagen, die müssen gar nicht kommentiert werden, die kommentieren sich gewissermaßen selbst.
Wenden wir uns lieber sogleich der Rede Steinbrücks zu, die bei den Genossen und bei Spiegel online für solch Begeisterungsstürme gesorgt hat. Dazu überspringen wir auch die Rede der Kanzlerin. Über ihre, aber nicht nur ihre Haltung zur Eurokrise ist hier alles notwendige gesagt bzw. gesungen:
Die Deutschen sind wieder wer – diesmal auch ohne Militär
Man fragt sich da, nachdem man mit Schaudern über die einleitenden, reichlich pathetisch und aufgetragen wirkenden Allgemeinplätze in Steinbrücks Rede hinweggelesen hat, zunächst, wie sich einer, der selbst in Regierungsverantwortung als der allergrößte Zögerling berühmt und berüchtigt wurde – die Rede ist vom ehemaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück -, heute dazu aufschwingen kann, der Kanzlerin Zögerlichkeit vorzuwerfen. Sie hätte, so Steinbrück, ihre heutige Rede “schon vor zwei Jahren geben müssen.” Steinbrück weiter: “Diese Beschreibung Europas und damit die Abwehr einer Verkürzung Europas auf das bloß Ökonomische wurden bereits vor zwei Jahren in einer Reihe von Beiträgen meiner Fraktion von diesem Pult aus formuliert.” Da ist mir offensichtlich etwas entgangen – allerdings nicht nur mir; auch Swen Schulz, SPD-Bundestagsabgeordneter, sagte noch im Mai 2012 auf einer Veranstaltung im Deutschen Bundestag, dass es ihm Sorge bereite, dass auch die SPD bis heute kein Konzept zur Rettung der Eurozone habe.
Als nächstes wirft Steinbrück der Kanzlerin vor: “Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, war es ein so schwerer Fehler, dass Sie es zugelassen haben, dass im Sommer dieses Jahres Ihre Koalition monatelang ein Mobbing gegen die Mitgliedschaft von Griechenland in der Europäischen Währungsunion betrieben hat.”
Alles schön und gut. Aber es hat durchaus auch entsprechende Stimmen aus der SPD gegeben, ohne dass ein Gabriel, ein Steinmeier oder ein Steinbrück dies verurteilt hätten. So, wie Frau Merkel Herrn Dobrindt hat gewähren lassen, wie Steinbrück ja durchaus zurecht beklagt, so haben er und ander Sozialdemokraten zum Beispiel Andrea Nahles gewähren lassen.
Steinbrücks Rede zeigt nicht nur an dieser Stelle das besonders und notwendigerweise in der SPD völlig fehlende Maß an kritischer Selbstreflexion; notwendigerweise deswegen, weil die SPD bis heute nicht nur ihre Vergangenheit seit 1998 nicht im Ansatz aufgearbeitet hat, sondern auch, weil die SPD-Spitze nach wie vor dahinter steht; dazu kommt noch eine sich nicht weniger zu weiten Teilen in die eigene Tasche lügende SPD-Linke. Ihre Unterwürfigkeit macht ja erst Kanzlerkandidaten wie Steinbrück oder vorher Steinmeier mit möglich.
Steinbrück wirft der Kanzlerin weiter vor, einen europäischen Nachbarn “für innenpolitische Händel zu missbrauchen” und geht doch selbst nicht darüber hinaus. Und auch der folgende Satz Steinbrücks könnte Teil eines Selbstgespräches sein: “Sie sind inzwischen eine Getriebene, die zu vielem so lange Nein sagt, bis der Druck im Kessel der Realitäten so stark wird, dass Sie schließlich Ja sagen müssen.” Der Journalist Harald Schumann hat in einem Beitrag für den Berliner Tagesspiegel im September 2010 Steinbrücks Sündenregister in dieser Hinsicht vielleicht am besten auf den Punkt gebracht: “Peer Steinbrück: Unter dem Strich steht nur Selbstdarstellung“. Dass sich daran auch aktuell nichts geändert hat, zeigt eine Passage in seiner Rede, die wir weiter unten aufgreifen. Zunächst jedoch zu einem weiteren Vorwurf Steinbrücks an die Kanzlerin:
“Sie sagen tagaus, tagein und landauf, landab, dass Sie Europa in eine Stabilitätsunion führen wollen. Schauen wir uns die Realität an: Die Jugendarbeitslosigkeit in sieben europäischen Ländern ist größer als 25 Prozent; in vier Ländern ist sie größer als 30 Prozent; in zwei Ländern ist sie sogar größer als 50 Prozent. Was halten diese jungen Menschen von Europa und Demokratie, wenn sie sich so von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen fühlen?”
Wieviele Menschen aber hat nicht auch schon die Politik der Agenda 2010, die Steinbrück auch heute noch für richtig hält, und die mit der Austeritätspolitik in den Krisenländern nur ihre konsequente Fortsetzung erfährt, “von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen”? Und ist es nicht eben diese Politik, die ganz grundsätzlich für die Eurokrise verantwortlich zeichnet? Ganz sicher ist das der Fall: Die Eurokrise offenbart das Scheitern deutscher “Reformpolitik”, zu deren größten Fürsprechern Steinbrück zählte und nach wie vor zählt.
Vor diesem Hintergrund haben auch diese an sich richtigen Worte Steinbrücks einen mehr als bitteren Beigeschmack:
“In einem solchen Europa herrscht aber auch kein Frieden. Denn der Frieden in Europa ist unabweisbar abhängig von Friedlichkeit in den Mitgliedsländern, abhängig von der sozialen Balance und der gesellschaftlichen Stabilität in diesen Ländern, und diese ist in einigen Ländern inzwischen längst in einer Unwucht. Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern, meine Damen und Herren, ist aber nicht die Geschichte einer gesellschaftlichen Spaltung. Sie wussten, dass das
Land und sie selber nur eine Chance haben, wenn man sich dem Wohl des
Gemeinwesens und dem ´Wohlstand für Alle´ verpflichtet fühlt.”
Wie kann einer, der im eigenen Land über Jahre eine Gesetzgebung gefördert hat, die auch hier Millionen unter Druck setzt und in Existenznöte stößt – man denke nur an Hartz IV und die Sanktionspraxis – und gleichzeitig mit Spitzensteuer- und Unternehmenssteuersenkungen und Finanzmarktliberalisierung den Begüterten das Geld hinterhergeworfen hat, von sozialer Balance sprechen, dem “Wohl des Gemeinwesens” und “Wohlstand für alle”? Dazu fällt einem nun wirklich nichts mehr ein, ohne beleidigend werden zu müssen.
Die vielleicht größte Frechheit Steinbrücks aber ist diese, wenn er der Kanzlerin vorhält:
“Ihrer Politik lag zumindest für eine lange Zeit – ich bin mir nicht sicher, ob Sie nicht zu Korrekturen bereit sind – eine große Fehleinschätzung zugrunde. Diese Fehleinschätzung lautete, die Krise einseitig für etwas zu halten, das sie tatsächlich allenfalls nur in Teilen war, nämlich eine Verschuldungskrise.”
Steinbrück selbst aber hat bis zuletzt immer von einer “Refinanzierungskrise einzelner Staaten” gesprochen. In einer Pressemitteilung der FH Aachen vom 17. Mai 2011 heißt es unter der Überschrift “Peer Steinbrück zu Gast an der FH Aachen: ´Wir haben keine Eurokrise”: “Laut Steinbrück handelt es sich nicht um eine Eurokrise, sondern um eine Refinanzierungskrise einzelner Staaten.” Diese Mär wiederholte Steinbrück auch noch im Januar 2012 in einer Rede vor der Friedrich Ebert Stiftung in Washington.
Das ist nun wirklich unfassbar, was sich dieser Kanzlerkandidat herausnimmt.
Steinbrück wirft der Kanzlerin schließlich vor, die “wirtschaftlichen Ungleichgewichte” nicht zu thematisieren, aber weil er diese selbst nur so vage benennt, ohne zu deren Ursachen vorzustoßen, verfehlt er dieses wichtige Thema ebenfalls bzw. spart es aus. Vielleicht kein Wunder, denn eine Ursachenanalyse hätte ihn eben unwiderruflich mit der Nase auf die Agenda 2010 gestoßen, die er bis heute befürwortet.
Dass Steinbrück und mit ihm wohl auch die Sozialdemokratie bis heute unfähig sind, eine soziale und ökonomische Alternative zur Politik der Bundesregierung aufzuzeigen, wird wiederum in diesen Sätzen ein weiteres Mal deutlich:
“Als Sozialdemokraten sagen wir ganz klar: Ja, wir wollen stabile Verhältnisse in Europa. Und ja, dazu sind auch Sparanstrengungen,
Konsolidierung und Strukturreformen notwendig. Wir wissen aber auch, dass dies nur gelingen kann, wenn es in Europa auch Impulse für Wachstum und Beschäftigung gibt und wenn es in Europa gerecht zugeht.”
Wie soll die SPD aus diesem tiefen geistlosen Abgrund je wieder herausfinden?
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