“Neue Lohnzuschläge – Deutsche Zeitarbeitsfirmen fürchten den Absturz“, titelte Welt online gestern. Hintergrund ist eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) – die aktuell (8 Uhr 30, 01.11.2012) leider noch nicht auf deren Seiten zu finden ist. Letzteres legt durchaus die Vermutung nahe, dass der DIHK seine Meldung erst einmal von ihm genehmen Medien interpretiert wissen möchte. Und was liegt da näher, als Welt online zu wählen?
Schon wird das Menetekel von drohenden Arbeitsplatzverlusten an die Wand gemalt: “Offenbar stehen viele Arbeitsplätze auf dem Spiel”, schickt Welt online in seinem Beitrag schon einmal vorweg. Der Grund: “Der Grund für den Sturzflug ist – neben der Euro-Krise und der eingetrübten Weltkonjunktur – die Einführung von Zuschlägen, die in wichtigen Branchen ab November die Zeitarbeit erheblich verteuern.”
“Jeder dritte Zeitarbeitsbetrieb geht deshalb davon aus, Stellen streichen zu müssen”, so Welt online weiter und zitiert den stellvertretenden Hauptgeschäftsführer des DIHK, Achim Dercks: “Gerade für Arbeitslose und Geringqualifizierte sinken dadurch die Jobchancen.” Und drückt kräftig auf die Tränendrüsen: “Denn gerade ihnen biete die Zeitarbeit die Gelegenheit zum Einstieg in Arbeit.”
Das aber sind Krokodilstränen! Bestätigen der DIHK bzw. Welt online damit doch nur, dass die Zeitarbeit von Niedriglöhnen lebt – und damit eben der Konjunktur schadet, deren Eintrübung Welt online ja immerhin auch als Ursache erwähnt. Denn die Arbeitnehmerentgelte sind das größte Aggregat der Volkswirtschaft; sie entsprechen aktuell rund 52 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und sind damit der wichtigste Nachfragefaktor für die Volkswirtschaft. Es ist daher vor allem die schwache Lohnentwicklung – die die exzessive Nutzung von Instrumenten wie Zeit- und Leiharbeit, Minijobs und fehlende Tarifbindung wie auch die Sanktionspraxis bei Hartz IV mit verschulden – die für eine schwache Konjunktur und hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich zeichnet.
Und dann die Mär, die Zeitarbeit würde die Chancen gerade für Geringqualifizierte verbessern. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, schrieb 2011 unter der Überschrift “Jeder fünfte Geringqualifizierte ist arbeitslos”: “Zwar erleichtert der Konjunkturaufschwung derzeit die Stellensuche auch für Geringqualifizierte. Der langfristige Trend zu schlechten Arbeitsmarktchancen für diese ist aber ungebrochen.”
Keine Rede ist beim IAB von Zeitarbeit als Beschäftigungsmotor für Geringqualifizierte. Das IAB nennt jedoch eine ganz andere Grundlage, die die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessere: “Bildungsförderung ist langfristig die beste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Auch in Zukunft
bleibt Qualifikation der beste Schutz gegen Arbeitsmarktrisiken.”
Die Zeitarbeit aber bietet keine Chancen, sondern ist ein willkürliches Ausbeutungsinstrument gegen Menschen mit besonders schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zementiert die dort herrschenden prekären Verhältnisse. Die Zeitarbeit handelt dabei freilich nur in dem Rahmen, den ihr die Politik geschaffen hat. Da ist es bezeichnend, dass Deutschland seit Jahren gemessen am Sozialprodukt rund 25 Mrd. Euro weniger für Bildung ausgibt als der Durchschnitt der unter dem Dach der OECD versammelten Industriestaaten. Die Politik ist damit ein Handlanger und Hauptverantwortlicher für Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt; gleichzeitig meint sie, sich aus der Verantwortung stehlen zu können, indem sie Lohndumping via Zeit- und Leiharbeit Tür und Tor geöffnet hat.
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