Der Märchenonkel
Man kann ja heutzutage alles nachlesen, online, zumeist sogar in Echtzeit. Diesen Satz aber habe ich mitgeschrieben, fein säuberlich, mit meinem altmodischen Füllfederhalter: “Wir lassen uns auch nicht die Rendite der Reformpolitik stehlen.”
So Peer Steinbrück bei seiner heutigen Bewerbungsrede zum SPD-Kanzlerkandidaten. Die gibt es jetzt auch online zu lesen. Und es lohnt sich, die oben aufgegriffene Passage vollständig zu zitieren:
“Wir lassen uns auch nicht, liebe Genossinnen und Genossen, die Rendite der Reformpolitik der Regierung Schröder stehlen, die vielen ausländischen Beobachtern Deutschland wie ein Märchenland vorkommen lässt. Wir sind es gewesen, die damals gegen Widerstände und trotz Schwierigkeiten dieses Land vorangebracht haben! Auch das gehört zur Bilanz sozialdemokratischer Politik.”
Und was würde denn auch besser zu jener “Reformpolitik” passen, als das Wort “Rendite”. Von dieser Rendite hat die breite Bevölkerung allerdings bis heute nichts gesehen. Sie hat sie erwirtschaftet. Eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern auch in prekären Beschäftigungsverhältnissen, für die jene “Reformpolitik” gesorgt hat, Leiharbeit, Zeitarbeit, Minijobs, und was die “Reformpolitik” nicht noch so alles erfunden und in Gesetze gegossen hat. Kassiert haben die “Rendite” vor allem der Finanzsektor und ohnehin schon reich Begüterte. Niemand und nichts steht dafür mehr als die 25 Prozent Rendite des zu jener Zeit den Ton angebenden Chefs der Deutschen Bank, Josef Ackermann.
Und deswegen bleibt Steinbrück auch gar nichts anderes übrig, als festzustellen, dass nicht der eigenen Bevölkerung, sondern “vielen ausländischen Beobachtern Deutschland wie ein Märchenland” vorkomme. Ich glaube, dass er nicht einmal gemerkt hat, was er da eigentlich redet. Doch wer mögen nun wieder diese vielen ausländischen Beobachter sein, denen Deutschland wie ein Märchenland vorkommt? Ob das wirklich so viele sind? Ob den gewöhnlichen Griechen, Spaniern, Portugiesen Deutschland wie ein Märchenland vorkommt – oder nicht viel eher wie der Gottseibeiuns? Drangsaliert Deutschland doch nicht zuletzt deren Volkswirtschaften mit der von Steinbrück gefeierten “Reformpolitik”, die die Menschen hierzulande nicht nur um ihre Früchte Arbeit, ihre Rendite, gebracht, sondern darüber auch der deutschen Volkswirtschaft unangemessene Wettbewerbsvorteile verschafft hat. Aber für einige Superreiche, die ihr Geld aus den Krisenländern nach Deutschland transferieren können, mag es sich ja so verhalten, wie Steinbrück suggeriert, und Deutschland ein Märchenland sein. Für die anderen gilt, dass Märchen eben auch sehr grausam sein können, wie jeder Leser der Grimmschen Märchen weiß.
Nimmt man nur diesen Auschnitt der Rede, der fürwahr kein unwesentlicher ist, verrät er doch, welch Geistes Kind Steinbrück weiterhin ist, haben die Delegierten der SPD und dem Teil der Bevölkerung, der sich überhaupt noch für Politik interessiert und wählen geht, heute unter frenetischem Beifall einen Märchenonkel als Kanzlerkandidaten beschert.
Unter falschem Namen
Doch dies ist nicht die einzige Kapriole, die Steinbrück heute geschlagen hat.
Schon in seinen unmittelbar auf die oben zitierte Passage folgenden Zeilen, schlägt er die nächste:
“Deutsche Politik muss wieder von Haltung und Werten bestimmt sein, und das kann niemand besser als unsere Partei, die sich in ihrer langen Geschichte nie umbenennen musste.”
Wie kann man daraus, dass sich eine Partei nicht umbenennen musste – sicherlich eine Anspielung auf SED-PDS-WASG-DIE LINKE – schließen, dass sie Haltung und Werte bewahrt hat? Die von Steinbrück unmittelbar zuvor gelobte “Reformpolitik” besagt ja gerade das glatte Gegenteil! Man könnte der SPD genausogut vorwerfen – gerade in Anbetracht des von Steinbrück gut gespannten historischen Bogens der Sozialdemokratie – in den Jahren seit Schröder unter falschem Namen Politik gemacht zu haben.
Ich habe irgendwo, ich meine beim großen Turgenjew gelesen, dass er einmal liebevoll zu seinem Hund gesagt hat: “Du verstehst dich nicht? Macht nichts, ich vestehe dich.” So oder so ähnlich verhält es sich wohl auch hier. Steinbrück versteht sich selbst nicht. Macht ja nichts, solange wir ihn verstehen! Wie könnte er sonst auch diese Sätze den vorangegangenen folgen lassen:
“Sozial und demokratisch sind wir, und sozial und demokratisch bleiben wir. Der soziale Wohlfahrtsstaat ist seit jeher das große Projekt der deutschen Sozialdemokratie.”
Wir können diese Sätze unkommentiert auf den Leser wirken lassen, denn anders als Steinbrück, dürfte der Leser sie verstehen.
Nur weil er, Steinbrück, nicht versteht, kann er auch dies sagen und Schröder, Brandt, Lassalle und Bebel in einem Atemzug nennen:
“Ich finde deshalb, liebe Genossinnen und Genossen, dass wir es Ferdinand Lassalle, August Bebel, Friedrich Ebert, Marie Juchacz, Hermann Müller, Otto Wels, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Annemarie Renger, Gerhard Schröder und Regine Hildebrandt schuldig sind, in unserem Jubiläumsjahr wieder einen sozialdemokratischen Bundeskanzler zu stellen. Mehr noch: Wir sind es den Menschen in diesem Land schuldig, wieder einen sozialdemokratischen Bundeskanzler zu stellen.”
Dazu gab es einen twitter, der mich über den politischen Geschäftsführer der Piraten, Johannes Ponader, als retweet erreichte, und dem trotz seiner Kürze erst einmal nichts hinzuzufügen ist:
“Die #spd schuldet uns keinen Kanzlerkandidaten. Sie schuldet Millionen Menschen ein Leben in Würde und ohne Angst.”
Eine gelungene Bestandsaufnahme sozialdemokratischer “Reformpolitik”
Wir werden jetzt nur noch eine wiederum unmittelbar an jene zuletzt zitierten Ausführungen anschließende Passage Steinbrücks herausgreifen, um zu zeigen, dass ganz oben in der SPD keine Wechselstimmung – die der mediale Mainstream und die Politik ja fälschlicherweise immer allein bei den Wählern suchen – herrscht.
“Es war immer unsere Stärke, den Problemen – wie ich zugebe: auch den gelegentlich selbst gemachten Problemen – nicht auszuweichen, sondern nach Lösungen zu suchen, die in die jeweilige Zeit passen. Das erwarten die Menschen von uns, und wir dürfen diese Erwartung der Menschen nicht enttäuschen. Es ist das zentrale Thema unserer Zeit, liebe Genossinnen und Genossen, dass selbst Bürger, die sich früher sicher wähnten – mit einem guten Job, einer guten Ausbildung und einem bisschen was auf der hohen Kante -, heute verunsichert und orientierungslos sind. Sie sind dies aus zwei Gründen. Sie sind dies erstens durch eine Finanz- und Bankenkrise, die ihren Glauben an einen gezähmten Kapitalismus und das Vertrauen in eine Soziale Marktwirtschaft erschüttert haben, weil sie zerstörerische Exzesse erlebt haben, die teilweise ganze Gesellschaften in den Abgrund treiben können. Die Bürger registrieren sehr genau, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden und dass sie, die Steuerzahler, die Letzten sind, die für Risikoignoranz und Fehlentscheidungen von Banken haften müssen. Sie registrieren sehr genau, dass ein wichtiges Element dieser Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr stimmt, nämlich dass Haftung und Risiko zusammenfallen. Damit muss Schluss sein! Zweitens spüren die Menschen, wie ihre Arbeit immer weiter entwertet wird. Lange Zeit war der Erwerb eines bescheidenen Eigentums auch für sogenannte Normalverdiener möglich. „Die Kinder werden es einmal besser haben“ Daran glauben inzwischen viele nicht mehr, wie wir gerade von einem Bürger gehört haben. „Die Kinder werden es einmal besser haben, man hat es selbst in der Hand.“ Doch diese Gewissheit gerät inzwischen ins Rutschen. Das Missverhältnis zwischen Einsatz und Gegenleistung stimmt für viele nicht mehr. Die Menschen müssen immer gebildeter sein, immer mobiler, immer flexibler, sie müssen sich immer mehr anstrengen – und zugleich müssen sie mit immer weniger zufrieden sein und kriegen auch immer weniger Lohn und weniger Rechte. Mit dieser Entwicklung muss Schluss sein! Dazu kommen in der Tat steigende Kosten, wie wir gehört haben, bei den Mieten, durch steigende Energiepreise, durch Zuzahlungen beim Arzt und durch steigende Kosten bei der Pflege. Hier besteht Handlungsbedarf, und die Bundesregierung guckt nur zu. Die CDU – eine Partei übrigens, die sich gerne in einem Ritual der Werte ergeht – ist zu einer bloßen Machtmaschine geworden. Aber der bloße Machterhalt ist nicht die zentrale Aufgabe von Politik. Die Aufgabe von Politik ist es vielmehr, zeitgemäße Antworten auf die Fragen nach dem Zusammenleben unserer Gesellschaft und nach dem Zusammenhalt in Europa zu finden. Genau das bleibt diese Regierung uns und den Menschen schuldig.”
Auch diese Aussagen können wir getrost zur Bewertung den Lesern anheimstellen. Für mich ist dies eine gelungene Bestandsaufnahme der harten Folgen der von Peer Steinbrück eingangs gelobten “Reformpolitik”.
Es fehlt an Analyse und Glaubwürdigkeit
Es empfiehlt sich, die ganze Rede zu lesen. Sie enthält auch viele richtige und erstrebenswerte Punkte, benennt soziale und ökonomische Schieflagen. Weder aber liefert Steinbrück eine schlüssige Analyse der Verhältnisse und möglicher Auswege, noch kann er mit den oben zitierten Aussagen glaubwürdig für eine Alternative stehen. Dazu hätter er sich mit seiner eigenen und der Politik seiner Partei seit Schröder kritisch auseinandersetzen müssen. Das gilt übrigens auch für die Personen Hannelore Kraft und Sigmar Gabriel und deren Reden, die sie heute in gleicher Manier gehalten haben. Steinbrück hat dies nicht unterlassen, weil er dies nicht kann; er hat es nicht getan, weil er von der Richtigkeit der “Reformpolitik” nach wie vor fest überzeugt ist. Wer selbst keine Wechselstimmung in sich trägt, wird aber schwerlich Wechselstimmung bei anderen entfachen können – sieht man einmal von einigen SPD-Delegierten ab. Noch sicherer aber ist, dass mit Steinbrück selbst ein Regierungswechsel keinen grundsätzlichen Wechsel in der Politik bringen wird.
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